«Digitale Auslöschung»: Trump-Regierung legt unliebsamen europäischen Richter lahm
Nicolas Guillou ist Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und wurde von der Trump-Regierung auf eine Liste gesetzt, die sein Leben komplett auf den Kopf stellte. Es ist die Sanktionsliste der Vereinigten Staaten von Amerika. Wer dort aufgeführt wird, muss sich von seinem bisherigen digitalen Leben verabschieden. Denn plötzlich geht nichts mehr.
watson hat sich auf Spurensuche begeben.
Was ist passiert?
Die US-Regierung hat am 20. August dieses Jahres drastische Massnahmen gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ergriffen.
Sie setzte mehrere Juristen auf eine «Schurkenliste», auf der bereits viele Terrorverdächtige stehen.
Betroffen sind insgesamt sechs Richter und drei Staatsanwälte, darunter der Chefankläger Karim Khan und der französische Jurist Nicolas Guillou.
Letzterer hat kürzlich in einem Interview mit der Tageszeitung «Le Monde» geschildert, wie ihn die Strafmassnahmen der Amerikaner im Alltag betreffen.
Das Interview wurde am 19. November veröffentlicht und hat in den vergangenen Tagen immer grössere Wellen geschlagen. Denn die Schilderungen Guillous lassen aufhorchen. Es ist von «digitaler Auslöschung» des unbescholtenen Juristen die Rede.
Nicolas Guillou sagt:
Wo ist das Problem?
Die digitale Abhängigkeit von den Produkten und Dienstleistungen der US-Techkonzerne erweist sich als gefährliche Schwachstelle. Das musste Richter Guillou nun auf die harte Tour herausfinden.
Im Interview erzählt er:
Praktisch könne man im Internet keine Einkäufe mehr tätigen, da man nicht mehr wisse, ob die Ware aus den USA stammt. Von Sanktionen betroffen zu sein, sei wie eine Zeitreise zurück in die 90er-Jahre.
Und es kommt noch schlimmer.
Wenn die US-Regierung eine Person auf die Sanktionsliste setze, würden alle amerikanischen Unternehmen mobilisiert, um sanktionierte Personen einzuschüchtern, gibt Guillou zu bedenken. In diesem Fall betreffe es Richter und Staatsanwälte, «die in den aktuellen bewaffneten Konflikten für Gerechtigkeit sorgen».
Der französische Jurist betont, dass diese US-Strafmassnahmen über ein Jahrzehnt oder sogar noch länger aufrechterhalten werden können. Die Sanktionen versetzten Menschen «in einen Zustand ständiger Angst und Ohnmacht, mit dem Ziel, sie abzuschrecken».
Wie reagieren die betroffenen Juristen?
Nicolas Guillou zeigt sich kämpferisch:
Der Internationale Strafgerichtshof setze seine Arbeit selbst in schwierigen Situationen fort.
Wie kann sich Europa wehren?
Wie Guillou erklärt, könnten die europäischen Behörden die «Blockierungsverordnung» anwenden – eine EU-Verordnung, die ursprünglich 1996 als Reaktion auf US-Sanktionen gegen Kuba geschaffen wurde.
Es handelt sich um einen Mechanismus, der Bürger und Unternehmen in der Europäischen Union vor den Auswirkungen von Sanktionen Dritter schützen soll. In der Europäischen Union tätigen Unternehmen kann damit verboten werden, US-Sanktionen umzusetzen, wenn diese europäischen Interessen zuwiderlaufen.
Allerdings ist an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, dass europäische Staatschefs jegliche öffentliche Konfrontation mit der US-Regierung vermeiden, weil sie Vergeltungsmassnahmen Trumps befürchten.
Richter Guillou, der seit Monaten quasi in einem digitalen Ausnahmezustand leben muss, wählt deutliche Worte:
Naivität ist heute fehl am Platz. Ohne Souveränität – im militärischen, gesundheitlichen, banktechnischen und digitalen Bereich – kann die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr gewährleistet werden.»
Bereits reagiert haben die grössten Städte Dänemarks und eine konsequente Abkehr von Cloud-basierten Microsoft-Produkten angekündigt. Der Schritt erfolgte, nachdem die Nachrichtenagentur AP im vergangenen Frühjahr publik gemacht hatte, dass der Chefankläger des IStGH keinen Zugriff mehr auf seine E-Mails hatte. Microsoft selbst sperrte Karim Khan wegen der von Trump verhängten Sanktionen aus.
Die EU-Mitgliedsstaaten bekennen sich demnach dazu, die Abhängigkeit von aussereuropäischen Tech-Giganten – insbesondere aus den USA und aus China – zu verringern. Dies betreffe strategische Bereiche wie Cloud-Dienste, Software und Künstliche Intelligenz (KI). Und es sollen Milliardenbeträge in europäische Technologien investiert werden, um die digitale Unabhängigkeit Europas zu erreichen.
Was war der Grund für die US-Sanktionen?
Die Vereinigten Staaten sind der wichtigste militärische Verbündete Israels. Unter Präsident Donald Trump hat die israelische Regierung Rückendeckung im Gaza-Krieg, der 2023 mit dem schlimmsten islamistischen Terrorangriff seit der Gründung Israels 1948 begann.
Der IStGH ist für die Beurteilung schwerster Verbrechen zuständig, die die Staaten-Gemeinschaft betreffen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen.
Im vorliegenden Fall wurden Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den früheren Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen: wegen des Verdachts der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Vorgehen gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen.
Die US-Sanktionen erfolgten «als Reaktion auf die anhaltende Bedrohung von Amerikanern und Israelis», teilte US-Aussenminister Marco Rubio mit. Die europäischen Richter und Staatsanwälte hätten sich daran beteiligt, Amerikaner und Israelis «ohne Zustimmung eines der beiden Länder zu untersuchen, zu verhaften, festzunehmen oder strafrechtlich zu verfolgen».
Alle EU-Staaten und auch die Schweiz sind dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterstellt; die USA, Israel und auch Russland hingegen sind keine Vertragsstaaten des «Römischen Statuts» des IStGH, das die juristische Grundlage des Gerichts bildet.
