Der Karriereweg von Kai Havertz ist vermutlich das Traumszenario von jedem Scout eines europäischen Topteams. Im Alter von elf Jahren entdeckt ihn Bayer Leverkusen in der Jugend von Alemannia Aachen und überredet den Linksfuss und dessen Eltern zu einem Wechsel in die Bayer-Jugend.
Dort bleibt er sechs Jahre, ehe er im Alter von 17 Jahren bei den Profis in der Bundesliga debütiert. Von da an überzeugt er während vier Saisons und wechselt im Sommer 2020 für 80 Millionen Euro zum FC Chelsea. Dieser Weg dient vielen Kindern, deren Eltern, aber auch zahlreichen Vereinen als Vorbild. Sie wollen einen angehenden Star früh erkennen, ausbilden, fördern und am Ende dafür belohnt werden.
«Vom U8- bis zum U13-Bereich scouten wir in einem Umkreis von 100 Kilometern rund um Leverkusen. Ziel ist es, die Spieler in dieser Region bestmöglich zu kennen», erklärt Leverkusens Scouting-Chef Tim Steidten zu Beginn des Gesprächs mit watson die Strategie seines Teams. Gleichzeitig sollen die Wege für die Nachwuchskicker möglichst kurz gehalten werden. Deshalb fügt er an: «In der Regel profitiert niemand davon, einen zehnjährigen Jungen aus seiner 500 Kilometer entfernten Heimat zu reissen und von seiner Familie und seinen Freunden zu trennen.»
Ab der U13 weitet der Bundesligist dann das Scouting aus und sucht deutschlandweit. Dennoch betont Steidten, dass es auch bei älteren Spielern noch Gründe gebe, eine Verpflichtung abzusagen. «Der Junge selbst muss im Vordergrund stehen. Es bringt uns nichts, den besten Fussballer aus Deutschland zu verpflichten, wenn er das emotional und seelisch noch gar nicht verarbeiten kann.»
Weltstars wie Cristiano Ronaldo hatten nicht die Zeit, diesen Schritt emotional zu verarbeiten. Bereits mit 12 Jahren wechselte er von seiner Heimatinsel Madeira in die 967 Kilometer entfernte Jugendakademie von Sporting Lissabon. Aufgrund seines speziellen Akzents hatte er damals grosse Schwierigkeiten, sich in seinen Teams zurechtzufinden.
Spieler, die allerdings bereit sind und den Schritt nach Leverkusen wagen, kommen nicht, wie andernorts, in ein hochmodernes Internat. Leverkusen sucht Gastfamilien in der Region, damit die Talente in einem familiären Umfeld leben können.
Das macht auch laut Arne Güllich, der an der TU Kaiserslautern unter anderem zur Jugendförderung im Fussball forscht, viel Sinn. «In psychosozialer Hinsicht scheinen Gastfamilien im Vergleich zu einem Internat die bessere Lösung zu sein. Ein Internat ist keine gute Lösung für Kinder. Die beste Familie für Kinder bleiben die Eltern.»
Noch vor 20 Jahren standen Eltern oft nicht vor dieser Herausforderung. Damals entstanden erst die Nachwuchsleistungszentren mit ihren Internaten. Die Kinder spielten daher meist noch in der Heimat. Mit dem Nachteil verbunden, dass manche Talente erst spät oder vielleicht sogar gar nicht entdeckt wurden.
Bestes Beispiel dafür ist Miroslav Klose. Mit 20 Jahren spielte er noch in der Bezirksklasse bei der SG Blaubach-Diedelkopf. Später wurde er zum Top-Star, deutschen Meister und Weltmeister mit Deutschland. Dass solch ein Spieler heute durch das Scouting-Raster fällt, hält Steidten für äusserst unwahrscheinlich. Er sagt:
Gleichzeitig liegt im frühen Scouting aber auch ein grosses Problem. So hat Arne Güllich herausgefunden, dass ein zu frühes Scouting wenig Sinn ergibt und sogar eher negative Folgen für die Kinder hat. «Nach der empirischen Forschungslage kann man sagen, dass ab einem Alter von 14 Jahren eine Förderung im Nachwuchsleistungszentrum eher erfolgversprechend sein kann. Eine frühere Förderung korreliert hingegen negativ mit dem langfristigen Erfolg.»
Heisst also: Wer früher gescoutet wird, schafft es langfristig eher nicht zum Profi. Das liegt etwa an den sogenannten Auffrischungsraten. Laut Güllich betrage sie pro Jahr in einem Nachwuchsleistungszentrum 29 Prozent. Ein Drittel der Spieler wird also am Ende einer Saison durch neu gescoutete und vermeintlich bessere Spieler ersetzt. «Das bedeutet, dass nach drei Jahren nur noch 37 Prozent der Spieler identisch sind mit dem ursprünglichen Kader. Nach fünf Jahren sind es nur noch 19 Prozent.»
Berechnet man das auf einen Kader, der in der U8 startet und in der U19 endet, tauschen sich die Spieler statistisch gesehen quasi komplett aus. «Die meisten früh selektierten Spieler werden also keine erfolgreichen Spitzenspieler und die meisten erfolgreichen Spitzenspieler wurden nicht besonders früh selektiert», erklärt Güllich.
Zudem fügt er an: «Daraus können wir lernen, dass die Vorstellung einer frühzeitigen Erkennung von Talenten und deren langfristige, durchgängige Förderung eher Ideologie ist als empirische Tatsache.»
Dennoch halten die Vereine am frühen Scouting fest. Warum? Steidten erklärt zu der Frage, ob es Sinne mache, erst später mit dem Scouting zu starten: «Ich persönlich glaube schon, dass es nicht unbedingt von Vorteil sein muss, wenn man alle Auswahlmannschaften durchläuft. Das ist mitunter eine körperliche und emotionale Belastung für Jungs. Allerdings sind wir natürlich nicht allein auf diesem Markt unterwegs.»
Diese Konkurrenzsituation, die Steidten andeutet, hört Güllich oft als Argument für ein frühes Scouting. «Vereine haben die Befürchtung, dass ein Nachteil gegenüber anderen Teams entsteht, wenn sie die frühe Nachwuchsarbeit im Kindesalter einstellen», erklärt der Wissenschaftler.
Die Angst, das eine Top-Talent zu verpassen, mit dem später Millionen-Beträge verdient werden könnten, sei zu gross. Gleichzeitig betonte Steidten wiederum, dass es auch einige A-Nationalspieler gebe, die sämtliche Jugend- und Auswahlteams durchlaufen haben.
Güllich hingegen hält es für möglich, dass sich die grundsätzliche Einstellung der Nachwuchsleistungszentren zum frühen Scouting ändern könnte, allerdings nicht aus einem eigenen Antrieb. «Die NLZs würden es vielleicht ändern, falls sich die öffentliche Meinung verändert, vielleicht auch durch kritische Berichterstattung. Ausserdem könnten die Eltern zu Veränderungen führen, indem sie ihre elterliche Verantwortung besser wahrnehmen und nicht bereit sind, ihr Kind schon mit 8 oder 10 Jahren ins NLZ zu geben.»
Gleichzeitig ist durch das frühe Scouting auch die Anzahl der Spieler gross, die es nicht in den Profi-Fussball schaffen. Aus einem Nachwuchsleistungszentrum aussortiert zu werden, ist laut Güllich ein einschneidendes Erlebnis für die Betroffenen. Deswegen fährt Steidten bei Bayer Leverkusen eine klare Strategie: «Die Familie hat den grössten Einfluss auf die Jungen. Man muss ihnen klar machen, dass man nicht zwangsläufig Profi wird, nur weil man bei Bayer Leverkusen in der U14 spielt.»
Es gibt aber auch die andere Seite im Scouting. Dann, wenn es darum geht, unumstrittene Top-Talente in den eigenen Verein zu bringen. Mit grossem Aufsehen gelang dies Leverkusen im Januar 2020 bei Florian Wirtz. Durch das Zahlen einer geringen Ausbildungsentschädigung wechselte der damals 16-Jährige aus Köln nur wenige Kilometer über den Rhein zu Leverkusen. Mittlerweile ist er durchgestartet, wurde deutscher Nationalspieler und gehört zum Stammpersonal in Leverkusen.
Grundsätzlich sagt Steidten zum Kampf um die Talente, dass es nicht förderlich sei, einen zehnjährigen Jungen aus München zu holen. Gleichzeitig sagt er aber auch:
Und genau so war es im Falle von Wirtz wohl auch. Im Sommer 2020 wäre der Vertrag des Offensivspielers in Köln ausgelaufen, deshalb war der Wechsel wohl möglich. Anstatt nun einige Minuten zum Kölner Trainingsgelände zu fahren, nahm Wirtz einen ähnlichen Weg nach Leverkusen auf sich.
Wirtz kam übrigens im Alter von sieben Jahren in die Jugend des 1. FC Köln. Er durchlief das gesamte Nachwuchsleistungszentrum und zählt daher zu einem der wenigen Spieler, die bei einem Scouting im Alter von sieben Jahren sogar den Sprung in die Bundesliga schafften.