
Boca-Fans im Hinspiel des Finals gegen Erzfeind River.Bild: EPA/EFE
Analyse
Wenn Fussball von Geltungssucht, Geld und Gewalt entfremdet wird: Eine Analyse zum Final der Copa Libertadores zwischen River Plate und den Boca Juniors in Madrid.
09.12.2018, 10:3009.12.2018, 11:45
Simon Häring / CH Media
Seit zwei Jahrzehnten verdient er sein Geld mit Fussball. Er lebte zwei Jahrzehnte in Spanien und Deutschland. Er ist dreifacher Vater, 35-jährig. Doch Javier Pinola, Verteidiger bei River Plate Buenos Aires, gibt sich immer noch gerne der Illusion hin, der bezahlte Fussball habe im Kern immer noch etwas Romantisches, Unverfälschtes.
«Das ist ein Spiel, unser Spiel, unsere Liebe, kein Spiel für Idioten», sagt er drei Tage vor dem Final der Copa Libertadores zwischen seinem Verein, den Millionarios, und dem Erzrivalen aus Buenos Aires, den Boca Juniors. Die als Verein des einfachen Mannes gelten. Als Hort der Kleinen, gemeinsam stark, solidarisch gegen «die da oben». «La mitad más uno, «die Hälfte plus einer», ist ihr Leitspruch und zugleich Ausdruck dieses Selbstverständnisses.
Kapitulation vor der Gewalt, die den Fussball in Geiselhaft hält
Angesichts der Gewalt und der Rhetorik, derer sich die Beteiligten bedienen, braucht es ein gerütteltes Mass an Naivität, um die Dinge so zu sehen, wie sie Javier Pinola gerne sehen würde. Es ist der 24. November 2018. Der Bus der Boca Juniors ist unterwegs in Richtung Belgrano, wo El Monumental steht, das Stadion von River Plate. Es fliegen Steine, es bersten Scheiben und mit ihnen die Hoffnung auf ein Fussballfest. Tränengas dringt in den Bus ein.
Die Bilder, die später aus der Kabine der Boca Juniors an die Öffentlichkeit gelangen, sind erschütternd: Spieler, die sich übergeben, die sagen: «Ich kann nicht mehr sehen, ich brenne.» Mit Schnittwunden am Körper und Glassplittern in den Augen. Der Anstoss wird erst um Stunden verschoben, dann auf den nächsten Tag verlegt, und erst dann der Weigerung der Boca Juniors wegen ganz abgesagt.
Eine Umarmung des Friedens
Nun wird am Sonntag in Madrid gespielt, im Estadio Santiago Bernabéu, 10'000 Kilometer vom Epizentrum des Hasses entfernt. Die spanische Tageszeitung «El Pais» hofft auf einen «Abrazo de Paz», eine Umarmung des Friedens. Dabei ist es eine Kapitulation. Eine Kapitulation vor der Gewalt, der Korruption, dem Drogenhandel und der Ohnmacht, die den argentinischen Fussball in Geiselhaft hält.
Buenos Aires: Wo der Fussball zuhause ist
1 / 20
Buenos Aires: Wo der Fussball zuhause ist
Wie geil muss es sein, wie Carlos Tévez im Bombonera zu spielen! Im Grossraum Buenos Aires spielen alleine 17 Erstliga-Klubs in oft beeindruckenden Stadien. Ein Streifzug durch die argentinische Hauptstadt.
quelle: x90087 / marcos brindicci
Madrid, so begründet der südamerikanische Verband Conmebol, habe gute Verbindungen, zudem sei Spanien das Land mit der grössten argentinischen Gemeinde ausserhalb des Landes. Augenwischerei. Madrid hat sich nicht aus altruistischen Gründen als Gastgeber angeboten wie auch die anderen Bewerber Genua, Doha, Miami und Belo Horizonte nicht.
Das Geld regiert
Gefolgt wird dem Primat des Geldes. 42 Millionen Euro Wertschöpfung generiert das Spektakel, rechnet eine spanische Behörde vor. 350 Millionen Zuschauer werden das Spiel (Sonntag, 20.30 Uhr DAZN) verfolgen. 2016 schalteten gerade einmal 60 Millionen ein. Es ist eine Kette der Perversion: Aus Gewalt wird Aufmerksamkeit, aus Aufmerksamkeit Geld.
Je 5000 Tickets dürfen River Plate und Boca an ihre Fanlager in Argentinien verkaufen. Ausgeschlossen werden nicht jene, an deren Händen Blut klebt, die Barras Bravas, die in der Anonymität der Masse ein Land terrorisieren, mit dem Verkauf von Tickets, Drogen und von Verpflegungsständen erpressten Schutzgeldern Millionen umsetzen, sondern jene, die im Fussball noch das Urtümliche, das Verbindende suchen.

Strassenschlachten statt Fussball: Das Rückspiel findet fernab von Argentinien statt.Bild: AP
Toxische Verbindung zwischen Politik und Fussball
Dazu passt auch diese Episode: Am Freitag bezieht Rafael di Zeo für fünf Tage sein Hotelzimmer an der Madrider Gran Via, an bester Lage. Er ist der einstige Anführer der «La Doce», der Fangruppierung der Boca Juniors. Dabei stand sein Name auf einer Liste mit 800 anderen, die nicht hätten nach Madrid reisen sollen und die Argentinien zuhanden der spanischen Behörden unterzeichnete.
Doch eine Richterin stiess das Urteil um, es bestehe keine Rechtsgrundlage. Zufall oder nicht: Argentiniens Präsident Mauricio Macri, zwölf Jahre Präsident der Boca Juniors, bezeichnet Di Zeo als «meinen Freund». Ob dieser ins Stadion kommt, ist zwar fraglich. Doch das Beispiel legt die toxische Verbindung zwischen Politik und Fussball offen.
Boca Juniors gehen Rechtsweg «bis zur letzten Instanz»
Der Final in Madrid ist auch Symbol für die Entfremdung zwischen den Klubs und ihren Wurzeln, den Fans. Das macht auch vor den Boca Juniors nicht halt. Seit August verspricht die Netflix-Serie «Boca Juniors Confidential» Einblicke in das Innenleben des Klubs. Sie zeigt, wie sich Carlos Tevez mit Freunden aus dem Quartier zu Kaffee und Kuchen trifft. Sie zeigt nicht: Dass Tevez einer jener Spieler sein soll, der die Barras Bravas finanziell unterstützt. Vielleicht nicht alles, aber vieles ist: Fassade.
Juan Roman Riquelme, langjähriger Boca-Spielmacher, sagt über den Final in Madrid: «Sie haben uns das Spiel gestohlen.» Sie, «die da oben». Sie, die aus der Gewalt Geld machen. Sie, die aus dem Superclásico «das teuerste Spiel der Geschichte» machen. Unabhängig davon, wer es gewinnt, ein Nachspiel ist garantiert. Die Boca Juniors fordern ein Forfait und gehen den Rechtsweg, «bis zur letzten Instanz», wie Präsident Daniel Angelici betont.
Alle diese Wichtigtuer und Selbstdarsteller berauben den Fussball mit ihrer Geltungssucht seiner Schönheit. Doch vor allem verkaufen sie die Anhänger für dumm. Einen Ausweg gibt es nicht. Man spielt das Spiel mit, oder man wendet sich von ihm ab. Nach dem Motto: Der Klügere gibt nach. Aber dann passiert, was Javier Pinola fürchtet: Man überlässt das Feld den Idioten. Und der Fussball wird zum Spiel der Dummen.
Weisst du, wer Ernesto «Che» Guevara war?
Der Fussball schreibt oft die schönsten Geschichten
Das könnte dich auch noch interessieren:
Seit Samstag stehen die Gruppengegner der Schweizer Nati an der EM in Deutschland fest. In der Schweiz freut man sich über das Duell gegen den grossen Nachbarn – und ist erleichtert über die als machbar geltende Gruppe. Und wie sieht es im Ausland aus? Eine kleine Presseschau.
Der «Tagesanzeiger» schreibt, die Schweiz habe eine «nicht allzu schwere Gruppe» zugelost bekommen. Attraktiv sei die Gruppe vor allem auch deshalb, «weil die Schweizer endlich an einer Endrunde auf ihren grossen Nachbarn treffen».