Impulsiv ziehen sie sich gegenseitig zur Brust, der Tänzer und die Tänzerin. So, als wollten sie sich nie wieder loslassen – um sich im nächsten Moment wieder voneinander abzustossen, als wäre es ein Abschied für immer. So ist er, der Tango, der Nationaltanz Argentiniens. Nichts spiegelt die Seele dieses Landes besser wider als diese Sekundenbruchteile.
Sie zeugen von der tiefen Zerrissenheit einer Generation, deren einzige Konstante die Unstetigkeit ist, weil niemand weiss, wann das nächste Donnergrollen über sie hinwegfegt. Sie ist geprägt von den Extremen – von buena onda, purer Lebensfreude, aber auch von den Narben, welche die Militärjunta der 70er- und 80er-Jahre hinterlassen hat, bei der 30'000 Menschen ermordet worden waren. Misswirtschaft, horrende Inflation und Korruption sind die Schlagworte der letzten Jahre.
Argentinien ist ein Land im ständigen Krisenmodus. In Zeiten wie diesen wird der Fussball noch mehr zu dem, was er hier immer schon war: eine Projektionsfläche für Sehnsüchte. Die Masse jubelt, sie tanzt und schreit. Das Stampfen der Füsse ist synchron, der Rhythmus schnell, der Lärmpegel ohrenbetäubend. Laut, leidenschaftlich und kunterbunt ist es, aber auch brutal: Hier, im Stadion, schlägt das Herz Argentiniens. Statussymbole verschwinden unter Trikots und dem Gesang. Man gibt sich gerne der Illusion hin, dass der Fussball alle gleich macht.
Dabei ist er das Symbol der Zerrissenheit, gerade dieser Tage, in denen River Plate Buenos Aires den Stadtrivalen, die Boca Juniors, zum Rückspiel des Finals der Copa Libertadores, dem südamerikanischen Pendant zur Champions League, empfängt. Das Hinspiel in «La Bombonera», der Pralinenschachtel, endete mit 2:2.
Der Superclásico teilt ein ganzes Land in zwei Lager: River und Boca, Millionäre oder Müllsammler, Rot-Weiss oder Blau-Gelb. Wer sich am Spieltag rund um das Stadion bewegt, sieht sich in den wüsten Klischees bestätigt, die rund um den argentinischen Fussball kursieren. Es riecht nach Urin und Bier, nach Schweiss und Marihuana. In La Boca, dem Viertel der Arbeiterklasse, Heimat der Boca Juniors, wird neben Fleisch und Bier auf offener Strasse Kokain feilgeboten. Die Polizei schaut dabei zu. Sie hat genug damit zu tun, Gewalteskalationen zu verhindern.
In den Fankurven gelten andere Regeln, Gesetze werden ausser Kraft gesetzt. Es ist ein Hort des Archaischen. «Te sigo a todos lados – te sigo hasta la muerte» – «Ich folge dir überall hin, ich folge dir bis in den Tod», singen Tausende Männer, entblösst ihre Oberkörper, zahnlos die Münder, ihre Körper mit Tattoos verziert, die ihre Liebe zu ihrem Fussballverein manifestieren. Und was sie singen, meinen sie wörtlich. Fangewalt hat in Argentinien, und insbesondere zwischen den Anhängern von Boca und River Plate, eine lange Geschichte. Eines der hässlichsten Kapitel spielt sich am 30. April 1994 ab. River Plate gewinnt auswärts mit 2:0.
Kurz vor Abpfiff klettert José Barrita, damals Anführer der La Doce (die Zwölf), wie sich die hartgesottenen Boca-Fans nennen, auf einen Betonpfeiler über der Stehplatztribüne und zeichnet mit der rechten Hand zwei Kreuze in den Himmel von Buenos Aires. Es ist ein Todesurteil. Nach dem Spiel rotten sich drei Dutzend willige Vollstrecker zusammen. Wenige Strassen vom Stadion entfernt schiessen sie auf einen Laster, auf dem die Anhänger von River Plate feiern. Zwei von ihnen sterben. «Empatamos 2:2» – «Wir haben auf 2:2 ausgeglichen», sprayt tags darauf einer an die Stadionmauer.
In keinem anderen Land gab es seit Einführung des Profifussballs so viele Tote wie in Argentinien. 328 Opfer zählt die Gruppierung «Salvemos el futbol» («Lasst uns den Fussball retten»). Die «Barras Bravas» («Wilde Banden») sind der Tumor, der den Fussball befallen hat. Sie organisieren den Drogenverkauf im und ums Stadion, erpressen Spieler und Trainer, kassieren Schutzgelder von Verpflegungsständen und verkaufen Tickets an Touristen, die im Gegenzug unter dem Schutz der Hooligans stehen. Bis zu drei Millionen Dollar soll das jährlich in die Kassen spülen.
Nach dem Hinspiel blieb es ruhig. Argentiniens Staatspräsident Mauricio Macri, von 1995 bis 2007 Boca-Präsident, setzte sich vergeblich für die Lockerung des seit 2013 geltenden Verbots von Auswärtsfans ein. Zu gross ist die Angst vor einer Eskalation. «Wer verliert», sagte Macri, «braucht 20 Jahre, um sich zu erholen.» Dem Sieger winkt Gloria eterna, ewiger Ruhm. Und es ist ein wenig wie beim Tango: Der Sieger will sich den Moment zur Brust nehmen, als wolle er ihn nie mehr loslassen. Und der Verlierer wird ihn wegstossen, in der Hoffnung, es sei ein Abschied für immer.