«Aber fünf Minuten vor dem Ende gehen wir», sagt meine Frau. Ich habe den dezenten Hinweis längst erwartet. Es ist wie immer, wenn wir irgendwo sind und ich plötzlich unbedingt einen eigentlich völlig belanglosen Sportanlass schauen will. So wie jetzt den Viertelfinal zwischen Limerick und Clare – oder eben Luimneach und An Clar, wie die Teams auf Irisch heissen – in der Munster-Provinz-Meisterschaft im Hurling.
Der ewige Streitpunkt eines Sportredaktors und seiner nicht ganz so fanatischen Frau: Sie kommt etwas widerwillig mit, will dafür jeweils wenigstens dem Chaos nach der Partie entrinnen, indem wir früher gehen. Ich bezahle dafür den Eintritt und würde am liebsten als Letzter aus dem Stadion gehen.
Denn wir haben bei anderen Gelegenheit schon Weltbewegendes verpasst: Einmal das Siegtor von Millwall in der Nachspielzeit gegen Norwich (2. Liga); einmal den Treffer zum 2:3 der Glasgow Rangers kurz vor Schluss in der Europa-League-Quali bei Sporting Lissabon.
Ich lächle ihre Aussage vorerst weg. Denn meine Vorfreude ist gross. Endlich habe ich die Möglichkeit, Hurling zu sehen. 3'000 Jahre alt soll das älteste Rasenspiel der Welt sein, das sich später zum schnellsten Sport auf Rasen entwickelt hat. Die CNN erstellte 2012 eine Liste mit den wichtigsten Sportanlässen, die «man gesehen haben muss». Das grosse Hurling-Final in Dublin belegt dabei hinter den Olympischen Spielen den 2. Rang. Vor der Fussball-WM.
Als wir das 8000-Seelen-Kaff Thurles erreichen, deutet sich die Wichtigkeit an. Hier findet die Partie auf neutralem Grund statt. Im Semple Stadion, dem «spirituellen Heim des Hurlings der Provinz». 21'500 Fans werden kommen. Kein Wunder platzt das Städtchen aus allen Nähten, die Strassen sind gesäumt mit grünen Limerick-Fans und gelben Clare-Anhängern. Ein letztes Guinness vor der Partie in einem der unzähligen Pubs und dann begibt sich der Mob langsam Richtung Stadion. Wir parkieren im Vorgarten eines Mehrfamilienhauses. Ein Rentner vermietet da die «Parkplätze» für 5 Euro und macht damit das Geschäft seines Lebens.
Hurling ist in Irland Nationalsport. Es gibt Leute, die sagen, dass man Irland nur beim Hurling richtig erleben kann. Beim All-Irland-Final im September steht das Land still. Über 80'000 Fans pilgern dann ins Croke Park Stadium in Dublin, um den Meister zu küren – obwohl es eine reine Amateur-Sportart ist. Bevor meine Frau und ich in Thurles ankommen, wissen wir nicht viel mehr über den Sport, als das, was wir am Morgen in diesem Youtube-Video gelernt haben:
Das baufällige Stadion ist gut gefüllt. Auffallend viele Familien sind hier. Unzählige Kinder haben ihren Hurley (Schläger) mitgebracht – in anderen Sportarten wäre dies unvorstellbar. Auch die Fan-Gruppen beider Lager werden nicht getrennt, sondern mischen sich friedlich im weiten Rund. Als wir verdutzt unsere Bedenken äussern, klärt uns Jim auf, der neben uns sitzt: «Das ist kein Problem. Im Hurling sind alle friedlich.»
Links neben uns sitzen zwei ältere Herren, die geschätzt schon das Turnier zum ersten All-Ireland-Final 1887 nur ganz knapp verpassten und Limerick unterstützen. Rechts neben uns ein rund 40-Jähriger Clare-Fan, der bei jeder Halbchance seines Teams fast vom Sitz fällt und die Faust ballen kann wie sonst nur Rafael Nadal.
Vor uns eine Limerick-Familie mit Fahnen, hinter uns vier Jungs aus Clare und ca. fünf Reihen weiter hinten (vermutlich) die Spielerfrau von Limericks Nummer 8, wie man sie nicht mal seinen schlimmsten Gegnern wünscht. Denn jedes Mal, wenn der Sliotar in der Nähe ihres Herzblatt ist, schreit sie euphorisch wie Justin-Bieber-Groupies in der ersten Konzertreihe: «Jamesyyyy!».Im richtigen Leben heisst die Nummer 8 James Ryan und wir sind froh, als er in der zweiten Halbzeit ausgewechselt wird. Um uns mit unseren Sitznachbarn gut zu stellen helfe ich Limerick, meine Frau schlägt sich auf die Seite von Clare.
Doch eigentlich ist es wie erwähnt egal, wen man unterstützt. Es reichen wenige Sicherheitsbeauftragte. Als zwei davon vor dem Stadion von sichtlich beschwipsten Jugendlichen etwas aufgezogen werden, reagieren sie gelassen. Schweizer Fussball-Fans sollten sich mindestens eine Scheibe abschneiden: Keine Fan-Krawalle, keine Pyrowürfe, aber ein Spiel lang grossartige Stimmung im ganzen Stadion.
Die beiden Teams werden gebührend empfangen. Erst marschieren sie hinter einer Dudelsack-Kappelle einmal rund ums Stadion und werden von jedem Sektor mit tosendem Applaus und Standing Ovations begrüsst:
Danach wird die irische Nationalhymne gespielt, wozu sich alle Zuschauer zur Fahne drehen, die hinter der Stehplatzrampe im Wind weht. Spätestens jetzt wird uns klar, das ist hier kein «Plauschspieli», sondern es geht um viel. Limerick und Clare sind Nachbar-Counties (ähnlich wie Kantone) und mögen sich nicht.
Die Partie ist der erste Schritt auf dem (teilweise komplizierten) Weg zum All-Ireland-Final. Die Counties aller vier irischen Provinzen (inklusive Nordirland) spielen dafür erst ihren Meister aus. Im Oktober war die Auslosung. «Seit November trainieren die Spieler neben ihrer normalen Arbeit morgens um 6 Uhr und abends ab 18 Uhr», erklärt Jim.
Als es los geht, sind wir vom Tempo beeindruckt. Es gibt kein langes Abtasten oder Zeitspiel, das ist irgendwie gar nicht möglich. Der Sliotar (Ball) flitzt hin und her. Die 70 Minuten sind actiongeladen und nie langweilig.
Manchmal sieht es für uns Laien zwar etwas unkontrolliert aus, wie der Ball herumgedrescht wird. Wir können kaum eine Taktik erkennen. Liegt der Ball am Boden, sehen die Versuche, diesen im Getümmel mit dem Hurley aufzuheben, naja, «beschissen» aus. Oder etwas anders ausgedrückt: Es wirkt dann mehr wie ein Rudel betrunkener Jugendlicher bei einem neuen Trinkspiel. Dazwischen brillieren einige Spieler allerdings auch mit schönen «Lob-Dribblings», die selbst Neymar erblassen lassen würden.
Tore fallen in der ersten Halbzeit keine, aber beide Teams erzielen einige Punkte. 9:8 für Limerick steht es, als praktisch mit dem Pausenpfiff eine Rauferei unter den Spielern ausbricht. Nach einem rüden Foul kommt es zur Rudelbildung, in der Patrick Donnellan seinem Gegenspieler den Hurley ins Gesicht schlägt – er sieht die Rote Karte. Die Emotionen gehen auch auf der Tribüne hoch. Selbst mein Sitznachbar – geschätzte 73 Jahre alt – steigt auf den Sitz, um diverse Fluchwörter Richtung Spieler zu schreien.
Nach dem Seitenwechsel wird die Partie noch hektischer. Limerick schiesst das erste Tor und baut seinen Vorsprung auf sechs Zähler aus, ehe der eingewechselte Clares Aaron Cunningham seinen grossen Auftritt hat. Bei seinem ersten Schuss streift der Ball die Lattenoberkante und bringt nur einen Punkt:
Dann setzt sich der gleiche Spieler doch noch zweimal richtig durch und erzielt zwei Treffer zum 20:20.
Dazwischen wird auch noch der eben erst eingewechselte Sean Tobin vom Platz gestellt. Seine einzige Aktion auf dem Spielfeld: Er lässt sich provozieren und rammt dem Gegenspieler den Hurley in die Rippen.
Kurz vor Schluss entscheidet John Fitzgibbon mit einem Punkt die dramatische Partie. Am nächsten Tag wird der «Irish Independent» schreiben: «Wenn das ein Müsterchen davon war, was Hurling uns in diesem Sommer bietet, dann wird es ein grosses Fest.»
Mit dem Schlusspfiff beginnt wenig später der Platzsturm der Limerick-Fans, welche ihre Helden frenetisch feiern. Und ja, wir haben das alles noch live im Stadion miterlebt. Selbst meine Frau ist so begeistert von der Partie, dass sie bis ganz zum Schluss bleiben will. Beim Verlassen des Stadions mitten in den Fanmassen sagt sie gar: «Ich bin jetzt Hurling-Fan. Das ist ja ein super Sport.» Ein grösseres Kompliment kann eine Sportart gar nicht erhalten. Und wir bedauern, dass der Sport in anderen Ländern wie auch der Schweiz kaum existiert. Eigentlich völlig unverständlich.