Die Wiegezeremonie gehört zum Boxen wie der K.o. Es ist der Moment, in dem sich die Kontrahenten zum letzten Mal ausserhalb des Rings in die Augen schauen. Tief, bedrohlich, siegessicher. Ab und zu fallen gehässige Worte oder fliegen sogar Fäuste. Psychospiele eben. Im Namen einer guten Show.
Arnold Gjergjaj ist kein Showman. Und sein Blick für einen Boxer ungewohnt sanft. Wäre er nicht 197 cm gross und 107 Kilogramm schwer, man möchte ihn beinahe knuddeln. Nur nicht gestern Nachmittag in London. Der 31-Jährige fixiert seinen Gegner David Haye beim gemeinsamen Posieren für die Fotografen, dass es einem angst und bange wird. Sein so friedvoller Ausdruck verwandelt sich in Sekundenbruchteilen in einen stechenden, durchdringenden Blick. Und der Baselbieter will diesen nicht mehr lösen, als gäbe es fürs Anstarren Bonuspunkte. So lange nicht, bis einer aus Hayes Entourage den britischen Boxer diskret aus dem Blickfeld Gjergjajs zieht. Genug ist genug.
Der Ort der Wiegezeremonie könnte besser nicht gewählt sein. Im kleinen Filmsaal der grossen Muhammad-Ali-Ausstellung mitten in der O2-Arena. Auch Gjergjaj bewundert auf dem Weg in den Saal die Fotos und Requisiten vom Champ. «I am The Greatest» steht auf dem überdimensionalen Plakat im Raum. Die Luft ist stickig. Journalisten, Fotografen und sonstige Auserwählte warten eine geschlagene Stunde, bis sich die Hauptakteure in einem Blitzlichtgewitter auf die Waage stellen. Unter den Gästen ein wilder Mix aus Trägern von eleganten Designeranzügen mit spiegelnder Gucci-Sonnenbrille auf der Nase und unförmigen Riesen in schlabbrigen Trainingsanzügen mit voluminöser Mütze über dem Kopf.
Während der dramaturgisch aufgebauten Wartezeit auf Haye und Gjergjaj müssen die Anwesenden die eine oder andere Peinlichkeit über sich ergehen lassen. Etwa den Auftritt von Schwergewichts-Opa Shannon Briggs. Der 44-jährige Amerikaner weiss seine beste Zeit hinter sich, hat für die Veranstaltung in London anscheinend den Job als Hofnarr gefasst. Oder die Präsentation der faszinierendsten Tattoos. Kaum ein Kämpfer, dessen Körper nicht grossflächig von wilden Kriegsmalereien gezeichnet ist. Gänzlich seltsam bleibt, dass der eine oder andere zum Wägen aufgerufene Boxer nicht erscheint. Vielleicht hat er die Hosen ja bereits gestrichen voll.
Auch der «kleine Schweizer» Arnold Gjergjaj hinterlässt in der grossen Welt des Boxens exklusive Spuren. Oder besser gesagt seine Duftmarke. Als einziger Kämpfer zieht er auch die Socken aus, bevor er sich auf die Waage stellt. Ziemlich unüblich bei grossen Boxevents. Die Schweiz ist halt das Land des Käses. Nach der Gegenüberstellung mit Haye muss der Baselbieter zum Doktor, der in Windeseile die Kampffähigkeit überprüft. Danach wird er ausgemessen: Dicke des Halses, Bizeps, Bauchumfang. Es gibt keine Geheimnisse mehr.
Die englischen TV-Stationen lassen Gjergjaj links liegen und stürzen sich auf den «Hayemaker». Thema ist dessen Gewicht: Die Waage zeigt 101,6 kg an. Er schleppt damit rund sechs Kilos mehr mit sich herum, als beim WM-Kampf gegen Klitschko vor vier Jahren. «Alles Muckis», betont Haye, doch die Frage bleibt, ob das zusätzliche Gewicht den schnellsten Schwergewichts-Boxer auf dem Planeten langsamer und damit angreifbarer macht.
Arnold Gjergjaj will darüber nicht spekulieren. Auch für die Ankündigung seines Gegners, ihn in der siebten Runde K.o. zu schlagen, hat der 31-Jährige nur ein müdes Lächeln übrig. «Wenn er so etwas sagt, dann kann ich das ja auch behaupten. Was spielen Worte schon für eine Rolle?»
Die «Kobra» besteht durchaus im Spiel der grossen Aussagen. Selbst wenn er sie leise und bedächtig von sich gibt. «Ich habe den Willen, einen WM-Kampf zu erreichen. David Haye hat diesen Erfolg schon hinter sich. Und er kennt das Gefühl der Niederlage», sagt Gjergjaj unter dem anerkennenden Nicken der starken Worte nie abgeneigten Pressevertretern.
Erst als der Zirkus vorbei, die TV-Kameras ausgeschaltet und der Medientross abgezogen sind, verwandelt sich Arnold Gjergjaj wieder in diesen sanftmütigen, gutherzigen Riesen, den sie daheim in Pratteln so lieben. Seine letzte Station des Tages ist eine katholische Kirche. Die beeindruckende St.-Pauls-Kathedrale ist für ihn ein wohlig warmer Ort. Dort spricht er ein leises Gebet. Wie er es vor jedem Kampf tut. Er betet nicht für den Sieg, sondern für seine Familie und deren Gesundheit. Und dass alles gut kommt. «Ich bin unglaublich privilegiert, hier in London einen solchen Kampf machen zu dürfen. Dafür bin ich dankbar», sagt er, lächelt und verschwindet.