Der FC Zürich hatte an diesem 28. Mai 2000 im Finale des Schweizer Cups Lausanne im Elfmeterschiessen besiegt. Wie es die Tradition verlangt, stiegen die Zürcher Fussballer auf die Haupttribüne des alten Wankdorfs, um die Trophäe in Empfang zu nehmen. Während es normalerweise seine Aufgabe ist, den Pokal hochzuheben, überlässt Kapitän Urs Fischer diese Ehre dem Vereinspräsidenten Sven Hotz.
Die Szene ist nicht anekdotisch. Sie zeigt die Persönlichkeit des derzeitigen Trainers von Union Berlin. Sein Altruismus und seine Bescheidenheit werden einhellig anerkannt und geschätzt. Diese Werte haben ihn nie verlassen, und sie sind es, die 22 Jahre später den Erfolg von Urs Fischer und seiner Mannschaft als unerwarteter Tabellenführer der Bundesliga zu einem grossen Teil erklären.
Als er mit dem Berliner Verein den Aufstieg in die Eliteklasse feierte, vergass er nicht, sich getreu seinem Naturell bei all den Menschen im Hintergrund zu bedanken, die zum Erfolg beitragen, «von der Wäscherin bis zur Marketingabteilung». «Vom Star in der Umkleidekabine über den Reservisten bis hin zum Steward – er hatte für alle den gleichen Respekt», sagt Germano Vailati, der Fischer beim FC Basel als Trainer hatte.
Der ehemalige Torhüter, der jetzt den Basler Nachwuchs auf seiner Position trainiert, hat eine enge Beziehung zu Urs Fischer aufgebaut, als sie noch Kollegen waren. Die beiden verbrachten auch ausserhalb des Spielfelds viel Zeit miteinander und hatten eine gemeinsame Leidenschaft: das Fischen. «Wir fuhren ein paar Mal in den Jura oder an einen Fluss in der Nähe des St.-Jakob-Parks», erzählt Vailati, der lieber Fische als Bälle in seinen Netzen fing. «Auch der Assistenztrainer Markus Hoffmann (Red.: jetzt in gleicher Funktion bei Union Berlin) kam manchmal mit uns. Aber wir haben nie über Fussball gesprochen, kein einziges Wort. Das Angeln war eine Beschäftigung, um den Kopf freizubekommen.»
Germano Vailati und Urs Fischer haben nicht mehr die Zeit, gemeinsam angeln zu gehen, sind aber in Kontakt geblieben. «Wir schreiben uns ab und zu über WhatsApp», sagt der 40-Jährige, der seinen ehemaligen Kollegen als «super Typ» beschreibt.
Ein Typ, der es nicht nötig hat, zu schmeicheln und zu tätscheln, um geschätzt zu werden. Nein, Urs Fischer ist für seine Offenheit und Ehrlichkeit bekannt. Er kann sich durchsetzen, wenn er unzufrieden ist. «Trotz unserer Nähe ausserhalb des Fussballs hat er mich in der Umkleidekabine wie jeden anderen kritisiert, wenn es nicht lief», erinnert sich Vailati. Aber der Zürcher wisse, wie man sich richtig verhält. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sei er nicht der Typ, der das Maul aufreisst. Weder an der Seitenlinie noch in der Umkleidekabine. Ein Charakterzug, zu dem er voll und ganz steht. «Als Spieler hatte ich Trainer, die sehr impulsiv waren und viel redeten», erklärte er im Januar 2021 in der NZZ.
Ein Ziel, das erreicht wurde. Was ist der Beweis? Selbst während des hitzigen Play-off-Rückspiels gegen Stuttgart, das Union Berlin den Aufstieg im Mai 2019 bescherte, wirkte Fischer unbeeindruckt. «Er stand meist abseits, die Arme verschränkt, scheinbar ruhig», beschrieb die NZZ. «Mit Schirmmütze, Brille, Kapuzenjacke und Dreitagebart wirkte er wie die betäubte Schweizer Version des Liverpool-Trainers Jürgen Klopp.»
Er ist ein Phlegmatiker, der nach einer schweren Niederlage auch als Psychologe auftreten kann. In seinem Buch über die Hintergründe von Union Berlin «Wir werden ewig leben» erzählt der Journalist Christoph Biermann von einer Episode, in der Fischer nach einer Klatsche die ganze Mannschaft zum Bowling mit Pommes und Schnitzeln einlud, um gemeinsam den Frust abzubauen.
Auch in Zürich erinnert man sich an die menschlichen Qualitäten des 56-jährigen Trainers. «Ich habe ihn im April beim Frauen-Cupfinal zwischen Zürich und GC wiedergesehen. Er hat mich nach Jahren wiedererkannt, auch wenn ich heute mehr Bartstoppeln als Haare habe», lacht Jérôme Thiesson. Der 35-jährige Ex-Profi spielte 2006 unter Fischer in der U21 des FCZ, als er noch bartlos war und einen langen Haarschopf trug.
Wie Germano Vailati spricht er von einem «grossen Gentleman», wenn er über seinen ehemaligen Trainer spricht. Dank diesem habe der ehemalige Flügelspieler von u.a. Zürich, Bellinzona und Aarau verstanden, was Professionalität im Fussball bedeute. Besonders ein Moment bleibt ihm in Erinnerung. «Wir waren gerade mitten in der Videoanalyse», sagt Thiesson.
In der deutschen Hauptstadt hat Urs Fischer einen Verein gefunden, der ihm entspricht: einfach, hart arbeitend, solidarisch, ohne grosse Stars und Glitzer. «Union Berlin lebt Werte, die auch meinen entsprechen», so der Schweizer. Sie haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit dieses atypischen Vereins, der oft als politisch links eingestuft wurde und von den Arbeitern des ehemaligen Ostberlins unterstützt wurde.
Und wenn Fischer sich in Union Berlin wiedererkennt, beruht das bei den Fans des Bundesliga-Spitzenreiters auf Gegenseitigkeit. So sehr, dass viele von ihnen, um ihrem Trainer nicht ohne Humor zu huldigen, auf den Tribünen regelmässig einen roten Fischerhut tragen.
Im Gegensatz zu den Fans des FC Basel werfen die Berliner Fans Fischer weder seine Zürcher Herkunft vor (sie lachen höchstens über seinen schweizerdeutschen Akzent) noch den Mangel an Schwung im Spiel, das er propagiert und durchsetzt. Sein Vertrag lief 2017 aus und wurde am Rhein nicht verlängert, obwohl er zwei Meistertitel in Folge gewonnen und in seiner zweiten Saison sogar das Double aus Meisterschaft und Pokal geholt hatte. Seine relative Zurückhaltung in der Offensive hatte weder einigen Experten noch der neuen Führung gefallen.
Urs Fischer hatte sich zwar enttäuscht über das Ende der Zusammenarbeit geäussert, doch heute ist er von dieser Kritik sicherlich nicht mehr betroffen. Denn nun spielt er in der Bundesliga, einer Liga mit mehr Prestige und Attraktivität als die Schweizer Super League, ganz vorn mit. Zumal der Zürcher nicht bereit ist, seine Prinzipien aufzugeben: «Das ist die Grundlage, um Spiele zu gewinnen», erklärte er 2018 in «La Liberté» über die defensive Stabilität. «Um offensive Aktionen zu entwickeln, braucht es erstens eine gute Organisation und zweitens Kreativität.»
Wie der Arbeiter, ob in Berlin oder anderswo, ist Fischer in erster Linie pragmatisch. Effizienz kommt vor Kunst. Eher Sardine als Kaviar. Und seine Spieler haben den Köder geschluckt. «Er ist unser Architekt, im Spiel ohne Ball ist er so gut wie Guardiola oder Mourinho», verehrte der ehemalige Torwart von Union Berlin, Rafael Gikiewicz. «Jeder weiss, was zu tun ist und wir werden auf dem Platz nie überrascht. Diese Mannschaft ist nichts ohne ihn.»
Aber täuschen Sie sich nicht: Trotz seines strategischen Talents und seiner ruhigen Art ist Urs Fischer kein kühler Taktiker. Er hat einen aussergewöhnlichen Siegeswillen, den er auf seine Schützlinge überträgt. Jérôme Thiesson kann davon ein Lied singen. «Wir trainierten mit der U21 des FC Zürich und er lud seinen ehemaligen, bereits älteren Teamkollegen Artur Petrosjan ein, bei uns mitzumachen, um sich fit zu halten, damit er wieder einen Verein findet», erzählt er.
Eins ist also klar: Urs Fischer und seine Spieler werden sich teuer verkaufen. Die Bayern, die den elften Titel in Folge anstreben, und die anderen grossen deutschen Mannschaften sind gewarnt.