Die Wachablösung habe begonnen, sagte Natitrainer Ottmar Hitzfeld vor dem Champions-League-Final im letzten Jahr in einem Interview. Bayern München und Borussia Dortmund hatten sich gegen Barcelona und Real Madrid durchgesetzt und für ein rein deutsches Endspiel gesorgt. «Die spanische Fussballelite stösst sportlich an Grenzen», schrieb die NZZ und die «SonntagsZeitung» sah den Fussball im Land von Real und Barça sich im Niedergang befinden: «Jede Herrschaft reizt ihren Zyklus irgendwann aus, übersteigt ihren Zenit.»
Diese Worte wurden vor zwölf Monaten geschrieben. Und heute? Steht fest, dass es in dreieinhalb Wochen zum Champions-League-Final zwischen den Madrider Stadtrivalen Real und Atlético kommt. Und steht fest, dass zwei spanische Teams die Uefa-Fünfjahres-Wertung anführen und sich zwei weitere in den ersten acht befinden. Ein Niedergang sieht anders aus.
Natürlich: Diese Wertung ist kein Spiegelbild der aktuellen Verfassung. Doch sie ist, weil sie eben nicht nur den Moment festhält, sondern auch die jüngere Vergangenheit berücksichtigt, sehr gut geeignet um darzulegen, wer immer noch die erfolgreichste Liga der Welt besitzt. Es ist nicht die Premier League, in der reiche Klubbesitzer mit Geld um sich schmeissen wie Dagobert Duck in seinem Geldspeicher. Auch nicht die Bundesliga, in der die Bayern alles überrollen und abgesehen von Dortmund kaum Konstanz auszumachen ist.
Italien ist nicht einmal mehr mit einem einzigen Klub in den Top Ten der europäischen Klubs vertreten. Das ist ein Armutszeugnis und Beleg dafür, dass die Serie A längst nicht mehr so gut ist wie ihr Ruf. Was die Wertung nicht aussagt, ist die Tatsache, dass die spanischen Spitzenklubs massiv verschuldet sind und trotzdem sorglos Unsummen ausgeben – ein Fakt, der im internationalen Vergleich eine Wettbewerbsverzerrung darstellt und deshalb immer wieder für Unmut sorgt.
Dass es die beiden Hauptstadtklubs Real und Atlético sind, die sich nun im Final der Königsklasse gegenüberstehen, und nicht Barcelona, ist nichts als logisch. Die Epoche des grossen Barça ist vorüber. Mit dieser Spieler-Generation sind nur noch punktuelle Erfolge möglich, aber keine totale Dominanz mehr.
Das spanische Fussballherz schlägt mehr denn je in Madrid, im Estadio Santiago Bernabéu und im sieben Kilometer entfernten Estadio Vicente Caldéron. Bei Real Madrid hat Carlo Ancelotti im Sommer von José Mourinho übernommen und ein Team geformt, das beeindruckenden Fussball spielt. Etwas länger benötigte Diego Simeone, der bei Atlético seit zweieinhalb Jahren an der Linie steht. Eine bärenstarke Defensive und gleichzeitig blitzschnelles Umschalten in den Angriff bei Balleroberung zeichnet die Equipe des Argentiniers aus.
Einen Favoriten fürs Endspiel auszumachen, ist schwierig. Im Cup eliminierte Real Madrid den Stadtrivalen im Halbfinal, in der Meisterschaft siegte Atlético auswärts mit 1:0 und trennte sich von Real im eigenen Stadion 2:2 unentschieden. Atlético Madrid führt die Liga drei Spiele vor Schluss an, hat drei Verlustpunkte Vorsprung auf Real, das noch ein Spiel mehr auszutragen hat. Die «Colchoneros» («Matratzenmacher») haben aber dank des einen Siegs in den beiden Direktbegegnungen den Bonus, dass bei Punktgleichheit sie den Titel holen.
Ende Saison könnte es gut sein, dass beide Madrider Klubs «La Decima» feiern, «den Zehnten»: Real Madrid den zehnten Erfolg in der Champions League, Atlético den zehnten spanischen Meistertitel. Für die Rot-Weissen wäre es der erste seit 1996. Die letzte Finalbegegnung der beiden Teams liegt ein Jahr zurück, damals holte Atlético den spanischen Cup nach einem 2:1-Sieg gegen Real.
Was gibt dieses Mal den Ausschlag? Ist es die individuelle Klasse von Weltfussballer Cristiano Ronaldo, der im Wettbewerb schon unfassbare 16 Tore geschossen hat? Oder die Routine von Real-Goalie Iker Casillas oder die Unbekümmertheit seines jungen Gegenübers Thibaut Courtois im Atlético-Kasten? Und wie beeinflusst die Absenz des gesperrten Mittelfeldmotors Xabi Alonso das Spiel Reals? Die Antworten werden am 24. Mai in Lissabon geliefert.