Wer erwartet hätte, dass die Schweizer Spieler nach ihrem Viertelfinal-Triumph gegen Finnland in Herning johlend und jubelnd durch die Mixed-Zone in Richtung Garderobe laufen, der wurde enttäuscht. Da huschte wohl hier und da ein verschmitztes Lächeln über die Gesichter. Aber grundsätzlich wirkten die Schweizer Eishockey-Cracks konzentriert, ja fast ernst.
Ein Eindruck, der nicht täuscht. Stürmer Sven Andrighetto sagt: «Es ist ein wunderbares Gefühl. Aber wir sind mit dem Erreichen des Halbfinals nicht zufrieden. Dieser Sieg ist gut für die Moral. Wir geniessen ihn. Aber wir wollen weitergehen.»
Für die nicht gerade erfolgsverwöhnte Eishockey-Nation Schweiz eine bemerkenswerte Einstellung. Eine Einstellung, die ihren Ursprung in Nordamerika hat. Dort, in der NHL, in der besten Liga der Welt, spielen derzeit acht aktuelle Schweizer Nationalspieler. Dazu verfügt das Team über eine ganze Reihe weiterer Akteure, die bereits im bisweilen rauen Klima der nordamerikanischen Ligen Erfahrungen gesammelt haben.
Deshalb ist dieser Exploit an der WM in Dänemark auch ein wenig «Made in the NHL». Wenn ein junger NHL-Spieler wie Timo Meier (21) von den San Jose Sharks schon früh während des Turniers davon spricht, dass er mit dieser Mannschaft mindestens in den Halbfinal kommen will, dann hat das nichts mit Selbstüberschätzung zu tun, sondern entspricht dem Selbstverständnis eines Profis, der sich tagtäglich mit den besten Spielern der Welt messen muss und weiss, was verlangt wird, damit man dauerhaft auf höchstem Niveau bestehen kann.
Wenn man hier in Kopenhagen mit den NHL-Spielern spricht, dann hört man auch immer wieder Schlagwörter wie «Wille» und «harte Arbeit». Attribute, die in Nordamerika auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere unabdingbar sind. Die aber – etwas plakativ ausgedrückt – nur bedingt mit der Schweizer Mentalität kompatibel sind.
Das Klischee des Schweizers, der schnell selbstzufrieden ist, existiert nicht umsonst. «Uns geht es so gut in der Schweiz», sagt Andrighetto. Es wäre ein Leichtes, sich für gutes Geld bei einem Schweizer Verein zu verpflichten. Aber diese Spieler wollen mehr, haben höhere Ziele.
«Es braucht vor allem Wille und mentale Stärke, um sich durchzubeissen», erzählt Andrighetto, der sich jahrelang durch die Farmteams kämpfen musste, wo er einen Bruchteil eines NLA-Lohns verdiente, ehe er einen Millionenvertrag bei den Colorado Avalanche erhielt.
Aus Nordamerika bringen diese Profis auch die Mentalität mit, mehr im Moment zu leben, sich auf die nächste Aufgabe zu konzentrieren, anstatt sich zu viele Gedanken um die Zukunft oder die Vergangenheit zu machen.
Sven Andrighetto sagt nach dem Sieg gegen Finnland: «Wir wollen nicht zu weit nach vorne, und nicht zu weit zurück schauen. Wir leben im Moment, geniessen den Moment.» Und der Verteidiger der New Jersey Devils, Mirco Müller, erklärt, auch mit Blick auf den Halbfinal-Kontrahenten Kanada: «Man muss jeden Gegner respektieren. Gleichzeitig dürfen wir aber keine Angst haben. Wir haben eine sehr gute Mannschaft mit sehr guten Spielern. Wir müssen uns vor niemandem verstecken.»
Der Grat zwischen Demut und Selbstüberschätzung ist bekanntlich oft ein schmaler. Doch auch in dieser Beziehung hat die «nordamerikanische Schule» Auswirkungen auf die Mentalität dieser Schweizer Mannschaft.
Mirco Müller: «Dadurch, dass wir so viele Spiele machen in der NHL, umso rationaler ist unsere Herangehensweise. Es ist manchmal schwierig, die richtige Balance zwischen Euphorie und Konzentration zu behalten. Bisher hatten wir einen sehr guten Mix zwischen diesen beiden Mentalitäten. Es ist etwas vom wichtigsten im Kopf, dass man mit Selbstvertrauen auftritt, seinen Fähigkeiten vertraut. Gleichzeitig aber auch zu wissen, was man kann und was nicht. Zu wissen: Wann muss ich einfach spielen, wann kann ich etwas riskieren?»
In der Tat ist es faszinierend zu beobachten, mit wie viel Verve, mit welcher Energie und mit welchem Selbstvertrauen diese Mannschaft in Dänemark bisher ans Werk gegangen ist. Und wie die NHL- und die NLA-Profis zu einer homogenen Einheit geworden sind, in der jeder Spieler seine Rolle übernimmt.
Roman Josi, einer der besten Verteidiger der Welt und Captain der Nashville Predators, schwärmt: «Unsere Teamchemie ist unglaublich. Ich bin erst seit drei Spielen da und wurde extrem gut aufgenommen. Es ist toll, ein Teil dieser Mannschaft zu sein.»
Jetzt liegt der Final drinWo der Weg dieser Mannschaft endet? Wer in einem WM-Halbfinal steht, der hat alle Möglichkeiten. Der kann sogar Weltmeister werden. Auch wenn der nächste Gegner Kanada heisst und den derzeit besten Spieler der Welt, Connor McDavid, in seinen Reihen weiss. Sven Andrighetto sagt: «Wir sind dabei, die Schweizer Mentalität zu verändern. Wir wollen weitergehen. Kanada wird ein harter Gegner. Aber wer gab uns Chancen gegen die Finnen?»