Der Mittwoch beginnt in Helsinki mit strahlendem Sonnenschein. Gegen Mittag steigt die Temperatur auf gut 20 Grad. Schöneres Wetter ist nicht denkbar.
Und dann ändert sich alles. Die Amerikaner müssen für den Viertelfinal von Tampere nach Helsinki zügeln. Ziemlich genau zum Zeitpunkt ihrer Ankunft ziehen am Horizont erste Wolken auf. Gegen 17 Uhr ist der Himmel bedeckt und es wird spürbar kühler. Am Donnerstag soll es regnen.
Wer abergläubisch und dem Pessimismus zugeneigt ist, denkt: Hoffentlich sind das keine schlechten Wetterzeichen für die Schweizer. Hoffentlich geht das strahlend schöne spielerische Wetter mit sieben Siegen in Serie nun im Viertelfinal am Donnerstag nicht zu Ende.
US-Coach David Quinn (55) ist ein Posterboy des US-Hockeys. Freundlich, optimistisch und mit Sinn für Humor. Als Erstrundendraft von 1984 hat er es nie bis in die NHL gebracht. Und so dient er ab 1993 vor allem im US-Universitätshockey und in verschiedenen Chargen im US-Verband. Bis er 2018 schliesslich seine Chance als Cheftrainer in der NHL bei den Rangers bekommt.
Im Mai 2021 ist er in New York gefeuert worden und nach wie vor auf der Suche nach einem Job. «Wenn möglich in der NHL.» So hat er Zeit, sich nun auch um das WM-Team der Amerikaner zu kümmern. Er coachte die Amerikaner bereits beim Olympischen Turnier in Peking. Da war nach dem Viertelfinal (2:3 n.P. gegen die Slowakei) bereits Lichterlöschen. Wie bei den Schweizern (1:5 gegen Finnland).
Wir dürfen im Viertelfinal «Pausenplatz-Hockey» auf höchstem Niveau erwarten. Nörgler verstehen die Bezeichnung fälschlicherweise negativ. Für Hockey mit wenig Struktur. Optimisten hingegen zu Recht als Kompliment für spektakuläres Offensivhockey ohne taktische Zwangsjacke.
«Wir haben vor der WM fünf Trainings machen können» sagt David Quinn, mit dem berühmten Pat Quinn nicht verwandt. Da blieb wahrlich keine Zeit, um Automatismen, um «Schablonen-Hockey» einzuüben. Das logische defensive Konzept: «Wir versuchen, das Spiel so einfach wie möglich zu halten.» Was ganz gut funktioniert hat: bloss 10 Gegentreffer. Die Schweizer haben bisher 15 kassiert.
Den Gegner lobt David Quinn so, wie sich das gehört und erwähnt auch das gute Coaching von Patrick Fischer. Nein, die Amerikaner unterschätzen die Schweizer nicht. Ob Leonardo Genoni oder Reto Berra im Tor stehen wird, kümmert den US-Coach allerdings auch nicht: «Beide sind exzellente Goalies.»
David Quinn lässt sich weiter nicht auf taktische Äste hinaus und spricht lieber über die Identität seines Teams. Die steht für Selbstvertrauen, Dynamik und Tempo («Run and Gun»). Ganz in der Tradition von Lake Placid 1980, als ein junges Team aus dem Universitätshockey den himmelhohen Favoriten Russland (damals UdSSR) besiegt und olympisches Gold gewinnt. Damals waren keine NHL-Profis dabei. Jetzt besteht die Mannschaft überwiegend aus NHL-Spielern. Aber der Geist ist jener von Lake Placid: Alles ist möglich.
«Run and Gun» ist die amerikanische Bezeichnung für «Pausenplatz-Hockey». Wenn nun ein Team mit einer «Run and Gun-DNA» auf einen Gegner mit einem Flair für «Pausenplatz-Hockey» trifft, dann darf Spektakel erwartet werden.
Torhüter Leonardo Genoni sieht die positive offensive Entwicklung unseres Hockeys so: «Wir sind heute eher dazu in der Lage, ein Tor mehr zu erzielen. Das macht es auch für den Goalie ein wenig einfacher.»
Es ist also heute eher möglich, einen Rückstand aufzuholen und ein Spiel noch zu wenden. Was in Helsinki mehrfach geglückt ist: Gegen Kanada wird gleich dreimal ein Rückstand wettgemacht (0:1, 1:2, 2:3) und das Spiel klar gewonnen (6:3). Gegen Frankreich wird aus einem 0:2 ein klares 5:2 und gegen Deutschland resultiert nach einem zwischenzeitlichen 1:2 ein 4:3 nach Penaltys. Wenn vorne mehr Tore fallen, spielt es weniger eine Rolle, wenn hinten der Goalie mal einen Puck reinrutschen lässt.
Die Statistik zeigt die offensiven Spektakel-Qualitäten der Schweizer: Sie sind zusammen mit Kanada das offensiv wirkungsvollste Team (34 Tore).
Denis Malgin ist mit 12 Punkten nach den Gruppenspielen WM-Topskorer vor Roman Cervenka (11 Punkte). Unter den 15 besten Skorern finden wir nach Abschluss der Vorrunde mit Nico Hischier (7.), Timo Meier (11.) und Pius Suter (13.) drei weitere Schweizer. Es ist unser offensiv bestes WM-Team seit 1951, als die Schweiz in Paris Bronze holte. Mit 28 Toren aus 6 Partien.
Dass die Amerikaner in 7 Gruppenspielen bloss 18 Tore erzielt haben – gleich viele wie Dänemark, einen Treffer weniger als Kasachstan und nur zwei mehr als Österreich – will wenig heissen: Sie mussten gegen Finnland (nur 5 Gegentore!) und Schweden (10) antreten. Die defensiv besten WM-Teams.
Der WM-Viertelfinal gegen die USA ist nicht nur ein interessanter Test über die tatsächliche offensive Durchschlagskraft. Die Partie ist auch ein «Stresstest» für das Selbstvertrauen.
Natürlich glauben die Amerikaner an den Sieg. Etwas anderes gibt es im US-Sport gar nicht. Dass sie in ihrer Gruppe bloss Rang 4 erreicht haben und die Schweizer Gruppensieger und punktbestes Team der Vorrunde sind, schmälert die Zuversicht nicht.
Es ist die Mentalität, die auch unserem Nationaltrainer Patrick Fischer gefällt. Und die er seit seinem Amtsantritt im Herbst 2015 nach und nach auch auf seine Mannschaft überträgt. Was umso einfacher ist, weil immer mehr Spieler diese Zuversicht im Alltag der NHL verinnerlichen. Und doch: Wenn die Amerikaner sagen: «Ja, wir gewinnen!» und niemals zweifeln, dann denkt der Schweizer ganz tief in seiner Hockeyseele wohl nach wie vor eher: «Ja, wir können gewinnen, aber …». Und so dürfen wir die Ausgangslage in einem Satz so zusammenfassen: Die Schweizer sind Favorit – aber sind sie es tatsächlich?
Die Amerikaner sind der perfekte Viertelfinal-Gegner für die Schweiz. Die Unterhaltung wird gut sein.