Donnerstagabend kurz nach 22 Uhr steht Prag Kopf: Jaromir Jagr hat mit seinem Treffer zum 4:3 die tschechische Hockey-Nationalmannschaft gegen Finnland soeben ins Halbfinale der Heim-WM geschossen.
43 Jahre ist Jaromir Jagr mittlerweile alt und immer noch unbestrittener Publikumsliebling. Doch der Routinier ist mehr als nur Maskottchen. Acht Spiele hat er bis jetzt absolviert, dabei sechs Tore und drei Assists auf sein Skorerkonto verbucht.
Die Nummer 68 ist während diesen Tagen in Tschechien wieder in aller Munde. Jene Nummer 68, die Jaromir Jagr ganz bewusst als Rückennummer ausgesucht hat. Sie ist ein politisches Statement.
Es war nämlich im Frühling 1968, als die Tschechen gegen die sowjetische Besatzungsmacht den Auftsand probten. Unter der Führung von Alexander Dubcek, Parteiführer der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, versuchte das unterdrückte tschechoslowakische Volk einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» zu schaffen.
Doch aus der Revolution wurde nichts, die Sowjetunion liess den Aufstand noch im selben Jahr brutal niederschlagen. 98 Tschechen und Slowaken verloren dabei ihr Leben. Jaromir Jagrs Familie erfuhr die Brutalität des kommunistischen Regimes am eigenen Leib. Sein Grossvater wurde lange als politischer Häftling gefangen gehalten, weil er sich nach der Enteignung geweigert hatte, für die Kommunisten zu arbeiten.
Jaromir Jagr geht die Familiengeschichte ziemlich nahe und meint: «Ich bin sehr glücklich, dass er als freier Mann und nicht im Gefängnis gestorben ist.» Trotz all den Qualen, die der Grossvater im Gefängnis erleiden musste, starb er erst kurz nach Ende der Haft – im Jahr 1968.
Geschlagene 20 Jahre sollte es dauern, bis sich die Tschechen und Slowaken aus den Klauen Moskaus befreien konnten. Sie taten dies ohne Gewalt – mit einer «Samtenen Revolution».
20 Jahre, während denen in Tschechien ein neuer Nationalheld geboren wurde: Vaclav Havel. Havel setzte sich mit Vehemenz für die Menschenrechte während der sowjetischen Okkupation ein und wurde deswegen zu insgesamt rund fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Dennoch sollte Havels unerbittlicher Einsatz für die Freiheit Früchte tragen: 1989 wurde er der erste Präsident der unabhängigen tschechoslowakischen Nation.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2011 war Vaclav Havel im Kopf vieler der Nationalheld Tschechiens. Er war es, der die Tschechen vor den Russen befreite. Er war es, der der Demokratie den Weg ebnete. Havels Tod hinterliess in der tschechischen Volksseele in eine grosse Lücke. Eine Lücke, in die Jaromir Jagr nun hineinschlüpfen könnte.
Freilich, Jagrs Beitrag zur Emanzipation der tschechischen Zivilgesellschaft kann natürlich auf keine Art und Weise mit jener von Vaclav Havel verglichen werden – er spielt ja auch nur Eishockey. Doch auf einer emotionalen Ebene vermag er das tschechische Volk wohl ebenso tief zu berühren, wie Vaclav Havel dies tat.
Und ginge Jaromir Jagr in die Politik, würden ihn wohl alle wählen. Vielleicht noch nicht heute, aber bestimmt am Sonntagabend – wenn es denn die Tschechen tatsächlich schaffen würden, im eigenen Land Weltmeister zu werden.
Zwei Schritte sind Jaromir Jagr und seine Kollegen von diesem Triumph noch entfernt. Als nächstes treffen sie am Samstagabend auf Kanada, das bis jetzt klar stärkste Team der WM. Gegen Österreich und Deutschland erzielten die Ahornblätter je ein «Stängeli», im Viertelfinale setzten sie sich gegen Weissrussland mit 9:0 durch.
Auch wenn die Tschechen als Aussenseiter ins Halbfinale gegen Kanada steigen werden, die Chancen auf eine Finalqualifikation sind intakt. Nach einem schwachen Start ins Turnier, mit Niederlagen gegen Kanada und Schweden, haben sich die Gastgeber mittlerweile gefangen und fünf Spiele in Serie gewonnen. «Wir waren zu Beginn etwas nervös. Selbst ich, obwohl ich schon seit fast 30 Jahren professionell Eishockey spiele», erklärt Jaromir Jagr die Startschwierigkeiten.
Der Druck auf die Hockeyaner, insbesondere auf Jaromir Jagr, ist immens. Aber es gehe nicht um ihn, meint der 43-Jährige selber. «Es geht um Tschechien, tschechisches Eishockey, um die Leute. Die Tschechen lieben Eishockey und jeder fühlt sich als Coach. Wir haben zehn Millionen Trainer hier.»
Und sollte diese Trainer-Armada ihre Nationalmannschaft nun tatsächlich in den Final von Prag «coachen», dann wartet dort wahrscheinlich jener Gegner auf die Tschechen, welcher ihnen bereits im Frühling 1968 gegenüberstand. Ihr Erzfeind: Russland.
Die Russen treffen im anderen Halbfinale auf Schweiz-Bezwinger USA und sind in diesem wohl zu favorisieren. Auch wenn es in der Gruppenphase für die «Sbornaja» im Direktduell eine Niederlage absetzte, die Russen haben das routiniertere und breitere Kader als die USA. Zudem wird für das Halbfinale extra Superstar , welcher durchaus in der Lage ist, sein Team im Alleingang in den Final zu führen. Alex Owetschkin eingeflogen
Unterstützung würden die Russen bei einer allfälligen Finalqualifikation wohl auch auf politischer Seite erhalten. IIHF-Präsident René Fasel würde nämlich gerne Vladimir Putin als Gast begrüssen – die beiden sind befreundet. Noch ist aber nicht klar, ob sich der russische Staatspräsident in die Höhle des Löwen wagen wird.
Einen herzlichen Empfang würden ihm die tschechischen Fans sicherlich nicht bereiten. Denn Hockey ist in Tschechien mehr als nur Sport und noch sind die Wunden der sowjetischen Okkupation nicht verheilt. Mit vereinten Kräften würden die Tschechen versuchen, die Russen in die Knie zu zwingen. Und auch dieses Mal würden sie es auf eine sportliche, faire Art und Weise tun – angeführt jedoch nicht mehr von Vaclav Havel, sondern von Jaromir Jagr.