Läuft Thierry Paterlini die Zeit davon? Das ist die bange Frage vor der Saison. Der neue Trainer hat in Langnau eine schier unlösbare Aufgabe übernommen: Den sportlichen Larifari-Betrieb der vorangegangenen zwei Jahre beenden und eine neue Leistungskultur aufbauen. Mit einem Team, das in allen Saisonprognosen auf dem letzten oder zweitletzten Platz und dem Abstieg näher als den Playoffs steht. Seit der Playoff-Qualifikation von 2019 auf dem 6. Rang haben die SCL Tigers nacheinander die Ränge 11, 12 und nochmals 12 erreicht.
Wie schwach die Langnauer nominell sind, lässt sich einfach erklären: Angenommen, die SCL Tigers gehen Konkurs und alle Schweizer Feldspieler sind von einem Tag auf den anderen verfügbar: Welche bekämen sofort bei einem anderen Team einen Job in den ersten zwei Blöcken? Wahrscheinlich keiner. Unter den ersten 50 Schweizern der Liga-Skorerliste finden wir bei «Halbzeit» keinen Langnauer. Der beste ist Flavio Schmutz (60.).
Nun haben die Langnauer mit dem Sieg gegen Biel bereits 37 Punkte erreicht. Zwei mehr als während der ganzen letzten Saison (35). Das 3:1 gegen Biel war der 9. Heimsieg der Saison. In den vorangegangenen zwei Jahren haben die Langnauer zusammengerechnet 9 Heimsiege gefeiert. Nie zuvor ist einer Mannschaft im Playoffzeitalter (seit 1986) eine solche Steigerung gelungen.
Ein Wunder? Nein, das Produkt einer Serie von richtigen Entscheidungen. Und Glück. Um in einem so unberechenbaren Business wie im Hockey im gleichen Jahr so viele richtige Entscheidungen zu treffen, braucht es neben viel Gespür, Sachverstand und Mut am Ende des Tages auch ein wenig Glück. Das Glück, dass die richtigen Personen auf allen Ebenen die richtigen Entscheidungen treffen. Eine durchgesetzte richtige Entscheidung führt zur nächsten. Zu einem positiven Domino-Effekt. Abläufe, die in einem Kindervers «Joggeli säll ga Birli schüttle» so wunderbar erklärt werden:
Im Verwaltungsrat sind die Zeichen der Zeit erkannt worden und einer der Verwaltungsräte hat den Mut, nun vorübergehend ins Tagesgeschäft einzugreifen. Zu räsonieren. Die sportliche Führung (Sportchef und Trainer) wird ausgewechselt. Der neue Sportchef Pascal Müller holt mit Thierry Paterlini einen Trainer, der bereit ist, mit ihm eine «Schicksalsgemeinschaft» zu bilden.
Die Identifikation mit dem Team schätzen beide so wichtig ein wie Talent. Mit Disziplin und Leidenschaft wird das neue Spielkonzept umgesetzt. Bis die Tore fallen oder verhindert werden können. Dazu gehört das Glück, dass der richtige Sportchef den richtigen Trainer findet, dieser Trainer das richtige Spielkonzept entwickelt und auf dem Eis die Schlüsselpositionen – sechs Ausländer, Nummer 1-Torhüter – richtig besetzt sind, die Chemie in der Kabine stimmt und jeder das tut, was ihm aufgetragen wird, und nicht das, was ihm gerade passt.
Die Abläufe im Inneren von Langnau entsprechen akkurat dem Kindervers. Der Meister (aus dem Verwaltungsrat), der die Dinge in die Hand nimmt, räsoniert und die positive Entwicklung in Gang setzt, bis der Joggeli tut, wie ihm aufgetragen und die Birnen bzw. die Tore fallen. Das «Joggeli-Prinzip».
Das Team wird getragen von der Disziplin und Leidenschaft der Schweizer, dem Talent und der Leidenschaft der Ausländer und Torhüter Luca Boltshauser. Er spielt das beste Hockey seiner Karriere. Ihm gebührt nach der ersten Saisonhälfte der Titel eines MVP: Er ist der Spieler, der den stärksten Einfluss auf die Leistung einer Mannschaft hat. Also der wertvollste Spieler. Er führt keine Statistik an. Aber er ist dazu in der Lage, Punkte, Siege zu stehlen. Keiner der sechs Ausländer führt eine Liga-Statistik an. Aber sie ergänzen sich und so unterschiedlich die Persönlichkeiten sein mögen – sie spielen wie eine Rockband nach der gleichen taktischen Melodie. Es sind einfache taktische Rhythmen wie bei der britischen Kultband Status Quo.
Dieses taktische Konzept ist keine Neuerfindung und schon gar nicht revolutionär. Es ist in den Grundzügen das Defensivsystem, mit dem die Tschechen (damals CSSR) einst die spielerische Überlegenheit der Russen (damals Sowjets) ausgehebelt hatten. Am spektakulärsten beim WM-Triumph 1985 in Prag. Taktische Intelligenz, Disziplin und Leidenschaft können fehlendes Tempo und Talent kompensieren und einem nominell viel besseren Gegner Raum, Zeit und Sauerstoff entziehen und ihn daran hindern, sein Potenzial umzusetzen.
So war es unter Hexenmeistern wie Heinz Ehlers oder Kari Jalonen und so ist es an einem guten Abend nun unter Thierry Paterlini. Der Unterschied: Heinz Ehlers und Kari Jalonen hatten in Langnau bzw. Bern nominell bessere Teams. Sie standen auf dickerem Eis als die heutigen SCL Tigers. Deshalb gebührt Thierry Paterlini in der ersten Saisonhälfte die Auszeichnung «Trainer des Jahres».
Was dem Zürcher hilft: Er tritt im Emmental nicht so auf, wie man sich im Emmental einen Zürcher vorstellt: In der Art vorlaut wie die Garnhändler in den Gotthelf-Geschichten. Der ehemalige Nationalstürmer hat diese ruhige, unbestürzbare Art und Gelassenheit, die ein wenig an Heinz Ehlers mahnt. So wie ab und an die portugiesische Sprache wegen des weicheren Tons als «Spanisch ohne Knochen» bezeichnet wird, so ist Thierry Paterlini vom Wesen her ein «Heinz Ehlers ohne Knochen»: Nicht so grantig und hin und wieder lächelnd.
Weil ihm die Kunst der Selbstdarstellung fehlt, wird er unterschätzt. Er ist ein Alphatier im Schafspelz der Freundlichkeit. Weil er eine eigene Meinung beharrlich durchzusetzen versteht, passte der erfolgreiche U18- und U20-Nationaltrainer nicht mehr ins Verbandsbiotop. Seine Nachfolger passen sich an. Dafür stimmen die Resultate nicht mehr. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wie wichtig es ist, dass eins ins andere greift wie beim Kindervers, wird in einem so emotionalen Teamsport wie Hockey oft unterschätzt. Alles, was beeinflussbar ist, muss stimmen und grosse Trainer achten auf Details wie Häftlimacher. Alexandre Grenier war kein Rebell und weit entfernt davon, einen Kabinenaufstand zu inszenieren. Aber das neue, schablonisierte Hockey passte dem taktischen Freidenker und Künstler nicht. Also suchte Sportchef Pascal Müller unverzüglich eine Lösung und transferierte den Kanadier kostenneutral zu den Eisbären in Berlin und ersetzte ihn durch Cody Eakin.
Schweizer können auf dem Transfermarkt nicht so einfach ausgetauscht werden wie Ausländer. Toben ist gut, wenn einer nicht spurt. Mit Gespür ein wenig an den Schrauben drehen, besser. Es ist ja möglich, dass einer nicht umsetzen kann, was verlangt wird, weil er es nicht kann, und nicht, weil er es nicht will. Zwei Beispiele zeigen, wie Thierry Paterlini arbeitet. Verteidiger Claudio Cadonau muss zwischendurch zuschauen. Er nützt die Kunstpause in Absprache mit dem Trainer zu intensivem Lauf-Sondertraining. Jetzt ist er beweglicher, besser als vorher.
Verteidiger-Schillerfalter Miro Zryd bringt mit seinem Hang zu künstlerischen Interpretationen der vorgegebenen taktischen Marschroute das Team oft in die Bredouille. Nun passt er ins Konzept. Auf die Frage, wie diese Zähmung möglich geworden sei, sagt Thierry Paterlini: «Nun, der Steve spricht viel mit den Verteidigern.»
Der Steve ist der neue Assistent Steve Hirschi. Ein Ur-Emmentaler, der in Lugano zur Verteidiger-Legende und hablich geworden und nun heimgekehrt ist, um seine immense Erfahrung weiterzugeben. Wenn ein Emmentaler mit einem Berner Oberländer ein ernsthaftes Gespräch führt und ihm gut zuredet, ist das Resultat wahrscheinlich besser als bei einem rockigen verbalen Zusammenfalten in englischer Sprache.
Eine Steigerung mit historischen Dimensionen ist gegenüber der letzten Saison zwar gelungen. Die Hoffnung auf mindestens einen Pre-Playoffplatz lebt auch bei Halbzeit der Saison. Aber der Abstand zu den Playout-Plätzen 13 und 14 ist weiterhin gering. Die SCL Tigers stehen nach wie vor auf dünnem Eis und das Glück ist zerbrechlich wie Glas. Aber die Langnauer haben inzwischen den Verstand und das Gespür, um sich auf dünnem Eis und bei zerbrechlichem Glück richtig zu verhalten. Und sie sorgen jetzt dafür, dass Joggeli weiterhin Birnen schütteln will.