Herr Patzelt, im Januar 2019, als wir uns zuletzt trafen, kritisierten Sie die deutschen Christdemokraten, die Wähler «bis hin zum rechten Narrensaum» nicht mehr an sich binden wollten und so die AfD stark gemacht hätten. Damals war Angela Merkel Kanzlerin. Ist die CDU unter Friedrich Merz wieder auf dem richtigen Weg?
Werner Patzelt: Zumindest sieht man in der CDU und in der Öffentlichkeit allmählich ein, wie töricht es war, so viele Wähler zur AfD zu vertreiben, weil man Politik mit kenntlich üblen Nebenwirkungen einfach nicht korrigieren wollte. Jetzt bezahlt die Strafgebühr nicht bloss die Union, nämlich durch ihre Abhängigkeit von SPD und Grünen, sondern auch unser Land, das von einander gern blockierenden Koalitionären regiert wird. Doch solange die Union keine begehbaren Brücken hin zur Partei ihrer verlorenen Wählerschaft bauen will, muss sie eben weiterhin mit Grünen, Sozialdemokraten und Linken zusammenarbeiten. Dadurch riskiert sie aber weitere Machtverluste zugunsten der AfD. Braucht es wohl einen ersten Landtag mit absoluter AfD-Mehrheit, bevor die Unionsführung das begreift?
So, wie sich die AfD derzeit präsentiert, ist sie aber kein möglicher Partner für die CDU. Und durch ihre Zusammenarbeit mit linken Parteien verliert die Union, wie Sie sagen, weitere Stimmen an die AfD. Ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gibt?
Zumindest solange nicht, wie man ihn nicht sucht. Gewiss kann die Union jetzt nicht einfach sagen «Brandmauer war gestern», wenn sie nicht in allen politischen Lagern verächtlich werden will. Sie könnte aber zwei Dinge tun. Erstens: Sie sollte informell und ganz vertraulich herausfinden, wer in der AfD soweit menschlich in Ordnung, politisch vernünftig und innerparteilich einflussreich ist, dass es sinnvoll sein könnte, mit ihm oder ihr ein künftiges Zusammenwirken zumindest zu erwägen. Und zweitens: Die Union muss präziser als bislang angeben und begründen, welche AfD-Rhetorik, welche AfD-Positionen und welche AfD-Personen ein dauerhafter Hinderungsgrund für jegliches Zusammenwirken sein werden. Damit wäre aber zugleich geklärt, unter welcher AfD-Rhetorik man bei welchen AfD-Positionen mit welchen AfD-Leuten ins politische Geschäft kommen könnte.
Und am Ende stünden von der AfD tolerierte Minderheitsregierungen?
Das Ziel wäre, dass die Union im Fall von Dauerkonflikten mit der SPD nicht den Regierungsbruch fürchten müsste, weil sie dann ganz ohne möglichen Partner dastünde. Das würde in der Koalition das eigene Verhandlungsgewicht steigern und solches politisches Tun oder Lassen verhindern, das noch mehr Wähler zur AfD treibt – und zwar deshalb, weil sie empfinden, von der CDU bekämen sie auch künftig nur noch grüne oder sozialdemokratische Politik geliefert.
Sollte die CDU nach dem Prinzip «Teile und herrsche» handeln und versuchen, die gemässigten, auch auf ihre Karriere bedachten AfD-Leute von den rechtsextremen Spinnern zu trennen?
Dazu habe ich solange geraten, wie die AfD noch eine sehr neue Partei mit gewaltigen inneren Spannungen war. Jetzt aber ist die AfD dabei, angesichts realer Machtchancen in Ostdeutschland zu einem teils gerne, teils trotzig zusammenhaltenden Team zu werden. Inzwischen können AfD-Anführer sogar stilistische Mässigung predigen, ohne vom Hof gejagt zu werden wie einst Bernd Lucke, Frauke Petry oder Jörg Meuthen. Also werden Versuche erfolglos sein, die AfD zu spalten. Sollte die CDU staatstragende AfDler finden, dann könnten die mit Unionsdeckung den radikalen Rest mitziehen. Überlässt man aber weiterhin eine an Wahltagen siegreiche AfD sich selbst, dann ist der Kampf um die Meinungsführerschaft rechts der Mitte für die CDU endgültig verloren.
Haben Sie keine Hoffnung, dass sich Union und SPD angesichts einer starken AfD zusammenreissen und einen Weg einschlagen könnten, der aus Ihrer Sicht vernünftig wäre? Die bisherige Migrationspolitik von Innenminister Alexander Dobrindt deutet doch darauf hin.
Ich hege diese Hoffnung gerne, werde ihr aber nicht meinen Analytikerverstand opfern. Dobrindts Politik, faktisch auf AfD-Linie, zeigt an, was eigentlich schon lange möglich gewesen wäre. Doch das Dynamit kommt noch: bei der Stabilisierung der Sozialausgaben, der Reform des Rentensystems, der Erneuerung der Bundeswehr. Und der Kulturkampf zwischen «Woken» und Konservativen geht auch weiter, wie der schwelende Streit um die Wahl von Verfassungsrichtern zeigt. Diese Koalition wandelt jedenfalls auf sehr dünnem Eis.
Sie sprechen den Streit um zwei Juristinnen an, die von der SPD als Verfassungsrichterinnen vorgeschlagen wurden, die von vielen CDU- und CSU-Abgeordneten aber nicht akzeptiert werden. War es klug von der Union, in dieser Frage ein solches Fass aufzumachen? Es geht um zwei von 16 Richterstellen, und die Union kann bei späteren Neubesetzungen ja wieder konservativere Kandidaten vorschlagen.
Die für einen Grossteil von Basis und Wählerschaft der Union wichtige Frage lautete: «Soll man angesichts linksgrüner Gestaltungswünsche immer klein beigeben?» Die Antwort war: «Nein, jetzt reicht es uns!» Bei dieser Runde im politischen Boxkampf hat die Unionsführung zwar schlecht ausgesehen. Doch diesen Punkt einfach herzuschenken, hätte rechts der Mitte den Zulauf zur AfD nur vermehrt.
Wie könnte es mit der Richterwahl weitergehen? Bisher scheint keine von beiden Seiten von ihrer Position abrücken zu wollen.
Dann wird erst mal kein neuer Richter gewählt, und die bisherigen amtieren weiter, bis es eine Mehrheit für Nachfolger gibt. Und weil es das gute Recht von Abgeordneten mit freiem Mandat ist, sich Zumutungen ihrer Bosse zu verweigern, gibt es jetzt auch keine Krise des Parlaments, sondern einfach die Praxis des Parlamentarismus.
Aber würde die Koalition ein Scheitern der Richterwahl überstehen? Beide Seiten habe sich doch in eine Lage manövriert, in der ein Nachgeben wie eine schwere Niederlage aussehen würde.
Beide Koalitionsparteien müssen Neuwahlen scheuen. Die führten nur zum weiteren Erstarken der AfD samt sinkender Wahrscheinlichkeit, dass sich wieder eine mehrheitsfähige Anti-AfD-Koalition bilden liesse. Ich glaube nicht, dass die Koalitionäre in diesen Abgrund wollen. Sie werden wohl die Zähne zusammenbeissen.
Könnte der AfD-Politiker Maximilian Krah seine Partei auf den Pfad der Mässigung führen? Vor kurzem galt er noch als einer der Verrückteren in der Partei. Nun, nachdem er erklärt hat, die AfD solle den ethnischen Volksbegriff aufgeben, wirkt er fast schon vernünftig.
Krah hat seine Geschicklichkeit als Anwalt ausgespielt. Er rät seiner Partei, einen Bogen um alle Positionen zu machen, die rechtlich angreifbar sind. Das ist klug und zeigt, unter welchem Wirklichkeitsdruck die AfD steht.
Vor Jahren haben Sie die AfD beraten, «mit ziemlich durchwachsenem Erfolg», wie sie 2019 sagten. Kommen Ihre Ratschläge nun endlich an?
Seit die Wirklichkeit bestätigt, wovor einst nur ein einsamer Politikwissenschafter warnte, entsteht allmählich die erforderliche Traute, um dessen Ratschlägen zu folgen. Ob man mir im Nachhinein offen Recht gibt, ist mir egal. Hauptsache ist, dass die AfD von den einen politischen Torheiten lässt – und die Union von den anderen. In beiden Fällen aber sollte man nicht zu optimistisch sein. Schlechte Gewohnheiten halten sich nämlich zäh.
Sie rechnen damit, dass die AfD im Osten Deutschlands bald absolute Mehrheiten erreichen könnte. Eine AfD-Regierung hier in Sachsen: Macht Ihnen das Sorgen oder glauben Sie, dass es so schlimm schon nicht kommen würde?
Ich habe nicht die Sorge, dass dann ein neues 1933 bevorstünde. Erstens kann eine Landesregierung nur im Rahmen der begrenzten Landeskompetenzen handeln. Bräche ein AfD-Ministerpräsident dabei Gesetze, könnte die Bundesregierung unter Zustimmung des Bundesrates den «Bundeszwang» ausüben, also einen Staatskommissar samt Team zur Übernahme der Regierungsgeschäfte in die Staatskanzlei und die Ministerien schicken. Zweitens wird der erste AfD-Ministerpräsident, falls dafür klug genug und von der AfD nicht daran gehindert, seine Hauptaufgabe in der Entdämonisierung seiner Partei sehen, um ihr weitere Wahlerfolge zu ermöglichen. Das Problem wird eher sein, tüchtiges und öffentlich akzeptiertes Regierungspersonal zu finden. Obendrein ist mit monatelangen, auch gewalttätigen Demonstrationen gegen jede AfD-Regierung zu rechnen, die man dann erst einmal aushalten muss.
Was Sie da beschreiben, tönt nach dem molekularen Bürgerkrieg, von dem der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger Anfang der Neunziger-Jahre sprach. Müssen wir uns nicht doch Sorgen machen?
Diese extreme Polarisierung haben wir doch schon. Manche glauben wirklich, die AfD sei eine Nazi-Partei und werde, einmal an der Macht, unweigerlich eine Diktatur errichten. Also greife das Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4 im Grundgesetz, sobald eine Wählermehrheit sich aufs Experiment einlässt, lieber von der AfD als weiterhin schwarz-rot-grün regiert zu werden. Und somit werden gewiss hässliche Zeiten kommen, sobald die AfD in Regierungsämter einzieht. Um wie viel besser wäre es gewesen, durch eine vernünftigere Eurozonenpolitik, Migrationspolitik, Energiepolitik und Corona-Politik eine solche Entwicklung zu vermeiden! (aargauerzeitung.ch)
Und alle AfD Politiker die von Bürgerkrieg sprechen oder mit dem Putschprinzen in Verbindung stehen, werden einfach ausgeblendet.
Wichtig ist nicht einmal die Migrationspolitik - deren scheinbare Relevanz ist blosses Konstrukt der Rechten.
Viel wichtiger sind Schutz vor Arbeitslosigkeit, die Krankenkassenprämien, die Chance auf eine neue Wohnung, Teuerung, Energiepreise, die Steuerrechnung - das ist, was den einfachen Leuten wirklich Sorge macht!