Seit 2006 hat Lugano keinen Titel mehr gewonnen. Warum ist das so? Die Gründe sind vielfältig und gäben Stoff für ein mehrwöchiges Seminar. Wir beschränken uns hier auf ein Thema: Die Trainer. 16 namhafte sind seit 2006 gescheitert und einer ist sogar mit Donnerhall freiwillig gegangen: Barry Smith, immerhin fünffacher Stanley Cup-Sieger. Er poltert 2011 nach einem 0:9 in Kloten: «Das Team hat keinen Charakter. Es ist untrainierbar.»
Lugano untrainierbar? Das ist denn doch etwas übertrieben. Aber zu Recht gilt der Trainerjob in Lugano als einer der schwierigsten der Liga. Vergleichbar mit der Arbeit in Bern und Zürich.
Nun soll es in Lugano ein Zauberlehrling richten. Luca Gianinazzi ist am 1. Januar gerade mal 29 geworden und mit Abstand der jüngste Trainer der Liga und der Playoffgeschichte (seit 1986). Er folgt auf Chris McSorley (60), der sich seit 1989 im Pulverdampf von mehr als 1500 Partien in Amerika, England, in Weltstädten wie Las Vegas und London und seit 2001 in Genf an der Bande bewährt hat. Ein grösserer Gegensatz wäre nicht einmal in einem Hollywood-Film über Trainer möglich.
Verrückt, also? Nicht unbedingt. Luganos Trainerkultur wird geprägt von charismatischen Alphatieren wie John Slettvoll (viermal Meister), Jim Koleff (1999 Finalsieger über Ambri) und ein wenig – aber nur ein wenig – noch von Larry Huras. Der Meister von 2003 führt das Team bis in die Playoffs 2006, wird während des Viertelfinals wegen des drohenden Ausscheidens gegen Ambri gefeuert und Harold Kreis holt den bisher letzten Titel. Nach der Meisterfeier geht er zu den ZSC Lions. Aus der eigenen Geschichte kommt in Lugano der Glaube an grosse Trainerpersönlichkeiten und an die Wunderwirkung eines Trainerwechsels.
Das neue Management mit Geschäftsführer Marco Werder und Sportchef Hnat Domenichelli (beide seit 2019 im Amt) geht einen neuen Weg. Seit längerer Zeit beschäftigen sich die beiden mit dem «Projekt Gianinazzi». Warum nicht – wie Ambri – einen Trainer aus den eigenen Reihen aufbauen? Warum nicht einem Zauberlehrling eine Chance geben? Hat denn nicht Ambri mit Luca Cereda seine Identität wieder gefunden? Eben. Weil Chris McSorley gescheitert ist, bekommt Luca Genianazzi nun seine Chance früher als geplant. Marco Werder sagt: «Er ist ein hauseigenes Produkt und ein grosses Talent. Für Lugano ist das eine wichtige Kehrtwende. Wir wollten einen Trainer verpflichten, der die Kultur des Klubs, aber auch der Region in sich trägt.»
Hnat Domenichelli erklärt sogar, er werde keinen neuen Trainer mehr anstellen. Das ist wunderbar gesagt. Und wenn dann doch die Zeit für einen Trainerwechsel kommen sollte, erinnert sich niemand mehr an diese Aussage. Aber sicher ist: Ein Zauberlehrling, der bereits die DNA der Klubkultur in sich trägt, hat bessere Voraussetzungen als einer, der sich erst eine Klubkultur verinnerlichen muss.
Lugano hat keine romantischen Geschichten zu erzählen wie Ambri. Lugano das Geld, Ambri die Seele – so sehen es die Fans im Tessin. Die Geschichte des neuen Trainers hat jetzt schon mehr Romantik als die seiner 16 gescheiterten Vorgänger seit 2006 zusammengerechnet: Die Mutter, die ihn zum Hockey schickt in der Hoffnung, er werde das raue Spiel fürchten und aufgeben. Die Mutter, die heute während des Spiels im Stadion Süssgebäck verkauft. Der Ertrag für die Juniorenkasse. Der junge Mann, der unbedingt Hockey-Profi werden will. Aber es nur zu vier Partien in Luganos erster Mannschaft bringt. Ein Verteidiger mit wenig Talent, aber viel Wille und Leidenschaft. Der gescheiterte Profi, der in der zweithöchsten und dritthöchsten Spielklasse einen neuen Anlauf nimmt und schliesslich nach dem Ende seiner unvollkommenen Spielerkarriere im Alter von 24 Jahren beschliesst, Trainer zu werden. Er übernimmt 2017 eine freigewordene Stelle in Luganos Juniorenabteilung. Auch Arno Del Curto ist 24, als er 1980 in der zweiten Liga bei Buochs seinen ersten Trainerjob bekommt.
Wenn die Hockey-Götter gnädig sind, kann aus Luca Gianinazzi Luganos sanfte Antwort auf Arno Del Curto werden. Der HCD-Kulttrainer ist zwar schon 35 als er in Zürich 1991 zum ersten Mal in der höchsten Liga zum Zuge kommt. Und es sind andere Zeiten, als er 1996 nach Davos geholt wird, um eine meisterliche Dynastie aufzubauen. Er hat mit Reto von Arx einen bedingungslos loyalen Leitwolf und Freund, der ihm den Rücken freihält. So funktioniert Lugano nicht. Luca Gianinazzi hat keinen Reto von Arx.
Und doch gibt es Parallelen. Auch Arno Del Curtos Spielerkarriere kommt nicht über die zweithöchste Liga hinaus und auch er entscheidet sich früh, Trainer zu werden. Er ist lernbegierig und visionär, will alles über Hockey wissen, setzt mehr auf sein Gespür für Spieler als auf Computer und Statistiken. Luca Gianinazzi ist in seiner Art ähnlich, aber leiser als Arno Del Curto. Viel leiser. Er strahlt in seinem sanfteren Wesen etwas von der Leidenschaft Arno Del Curtos aus.
Eine Mischung aus Bescheidenheit, Beharrlichkeit und Leidenschaft macht sein Charisma aus. Nicht grosse Sprüche. Er sagt, er sei im Umgang mit den Spielern einfach authentisch. Er suche das Gespräch und er könne dabei gerade von den Routiniers viel lernen. Aber die Konfrontation scheue er nicht und sage, was ihm nicht passe. Er lese viel und sei immer auf der Suche nach Hockey-Wissen. Kein langweiliger Technokrat, der seine Autorität auf statistische Kenntnisse und Videostudium aufbaut. Mehr ein leidenschaftlicher Hockey-Philosoph (darin ähnelt er sogar ein wenig dem grossen John Slettvoll) als autoritärer Kabinen-Kommandant. Mehr Spielerversteher als Antreiber.
Kann sich Luca Gianinazzi durchsetzen? Oder besser gefragt: Kann Lugano Hockey-Romantik? Wir sollten es nicht ausschliessen. Chris McSorley wird nach einem 3:7 in Bern abgesetzt. Sein Nachfolger beginnt mit einer 2:3-Heimniederlage gegen Davos. Gegen Gottéron folgt eine weitere Heimpleite (2:4) und am 15. Oktober gar ein 1:6 in Langnau. Luca Gianinazzis Auftritt nach diesem Tiefpunkt ist erstaunlich und beeindruckend: Er sucht im Kabinengang nicht nach Ausreden. Ruhig und doch bestimmt spricht er über den langen Weg, den er mit seiner Mannschaft gehen müsse. Über die Werte, auf die er setze. Und siehe da: Inzwischen hat er mit Lugano fünf der letzten sechs Partien gewonnen. Die Pleite gegen Langnau ist inzwischen am letzten Mittwoch mit einem 5:2 auf eigenem Eis korrigiert worden.
Lugano ist nicht Ambri und wird nie sein wie Ambri. Ambri kann von seiner Hockey-Romantik leben. Lugano nicht. Lugano definiert sich über den Erfolg. Aber Luca Gianinazzi bringt die Prise Romantik in Luganos Hockeykultur, die in einem speziellen Umfeld für eine höhere Akzeptanz und eine differenziertere Sichtweise sorgt. Mit einem Trainer aus den eigenen Reihen sind die Kritiker geduldiger als mit einem Kanadier oder Skandinavier.
Im Besten Fall findet Lugano mit Luca Gianinazzi eine neue Identität. Nach dem Motto: Tessiner Hockey-Geld, gemanagt von einem Tessiner. Und nicht mehr Tessiner Geld unter ausländischem, unter kanadischem oder skandinavischem Kommando. Er hat nichts zu verlieren. Aber alles zu gewinnen und sagt: «Ich gebe sowieso mein Bestes. Wenn es nicht hinhaut, werde ich mir keine Vorwürfe machen. Denn mehr als das Beste kann keiner geben.»
Die Aktie Lugano ist mit dem 10. Platz sportlich stark unterbewertet. Wenn auch die Spieler einen Sinn für Luganos neue Hockey-Romantik haben, dann können sie mit ihrem neuen Trainer sehr, sehr weit kommen. Und aus dem Zauberlehrling kann ein Magier werden.
Ich bin gespannt wie es weitergeht!