Der watson-Eismeister Klaus Zaugg blickt auf die neue National-League-Saison voraus, die am 14. September beginnt. In umgekehrter Reihenfolge seiner Prognose nimmt er alle Klubs der Liga unter die Lupe. Heute der achte von 14 Teilen – der HC Lugano.
«All tools, no Toolbox»: Dieser nordamerikanische Spruch gilt, wenn alles vorhanden ist und trotzdem der Erfolg ausbleibt: Wahrscheinlich hat kein anderes Hockeyunternehmen so viele kluge Köpfe in der Führung und im Umfeld, die so viel von Sport verstehen (Vicky Mantegazza, Hnat Domenichelli, Chris McSorley, Andy Näser, Stephan Lichtsteiner, Marco Werder, Jean-Jacques Aeschlimann, Toto Marti, Paul DiPietro, Flavien Conne). Und trotzdem sind immer wieder Operetten-Trainer, Lottergoalies und ausländische Nieten beschäftigt worden.
Seit dem Final von 2018 hat Lugano nicht eine einzige Playoff-Serie gewonnen und ist seit dem letzten Titel von 2006 nur zweimal über den Viertelfinal hinausgekommen.
Wird nun endlich alles besser? Jeden Sommer vermittelt Chris McSorley allen das Gefühl, etwas Grosses stehe unmittelbar bevor. Wer es nicht glaubt, gilt als Unwissender. Und wenn dann das Grosse nicht kommt: kein Problem. Dann bringt er wohldurchdachte Ausreden vor. So ist der charismatische Kanadier Europas bester Verkäufer seiner selbst geworden.
Seine Bilanz nach der ersten Saison in Lugano ist erschütternd: Platz 9 und im Viertelfinal gegen Zug chancenlos (0:4). Kein anderer Trainer hätte in Lugano eine solche Bilanz ungeschoren überstanden. Chris McSorley aber wird weiterhin als «Jesus Chris» verehrt (den Namen haben einst die Genfer Lokalchronisten erfunden): keine Kritik, keine Polemik. Dafür allenthalben Verständnis und Lobpreis – und wieder ein Transfer-Investitionsschub.
Die Aufrüstung zum Titelkandidaten beendet allerdings nach 20 Jahren das «Ausreden-System McSorley»: Der Kanadier hat für die neue Saison zum ersten Mal eine NL-Mannschaft, die gut genug ist, um die Titanen aus der Deutschschweiz herauszufordern. Mit Mikko Koskinen auch den Torhüter. Die grosse Vorsitzende Vicky Mantegazza hat investiert, Sportchef Hnat Domenichelli transferiert und nun muss Chris McSorley liefern.
Es bleibt ihm nicht einmal die Ausrede, es sei nicht richtig transferiert worden: Bei jeder Gelegenheit erklärt er ja, wie eng die Zusammenarbeit mit der Präsidentin und dem Sportchef sei. Chris McSorley ist mit 60 noch lange nicht am Ende seiner Karriere angelangt. Aber am Ende aller Ausreden. Vor allem aber gibt es die wichtigste Ausrede – die Goalie-Ausrede – nicht mehr.
Mikko Koskinen, in der NHL Dollar-Millionär geworden, tritt seinen Zweijahresvertrag in Lugano mit grössten Hoffnungen an. Er kann in einem goldenen Karriere-Herbst vom gut strukturierten Spiel Luganos profitieren. Zumal er seine Tauglichkeit im europäischen Hockey zwischen 2013 und 2018 in der KHL mit zwei Titeln (St. Petersburg 2015 und 2017) bewiesen hat.
Mag sein, dass gross gewachsene Torhüter nicht immer gut altern, und dass es nach den schwierigen Jahren in Edmonton etwas dauern könnte, bis der finnische Goalie-Titan sein Selbstvertrauen wieder poliert, gebürstet und gekämmt hat. Aber das ändert nichts daran, dass von Lugano eine Rückkehr in die obere Tabellenhälfte erwartet werden darf.
Am Ende reichte es letzte Saison bloss für Platz 9 und der Triumph in den Pre-Playoffs gegen Servette war bloss ein sportlicher Trostpreis. Das grösste Problem war die Unruhe auf der Goalie-Position, die den Einsatz von fünf verschiedenen Torhütern erforderte, die zu oft Lottergoalies waren. Mit dem NHL-Titanen Mikko Koskinen sollte dieses Problem gelöst sein. Calle Andersson kann Romain Loeffel fast ersetzen und Marco Müller ist besser als Alessio Bertaggia. 150 Gegentreffer (mit Romain Loeffel, Mirco Müller und Santeri Alatalo in der Abwehr!) waren letzte Saison viel zu viel. Schlimmer war es hinten nur noch bei Ajoie und Langnau. Chris McSorley muss und wird dieses Problem lösen. Ist er dazu nicht in der Lage, muss er trotz Vertrag bis 2024 um seinen Job bangen.