Polemik? Kritik? Nein. Die Schweizer haben zwar in Helsinki zwei der drei Spiele um den Karjala-Cup verloren. Aber es war der interessanteste, ja dramatischste Auftritt seit dem Einstieg in die Euro Hockey Tour im Herbst 2022 als Ersatz für Russland. Helsinki hat nämlich in den ersten drei Spielen seit dem WM-Final die Grenzen unseres Hockey-Wunders aufgezeigt.
Es sind Grenzen, die keine Ausreden sind. Sie können statistisch belegt werden: In unserem Land spielen 29'360 Menschen Hockey. In Finnland sind es 66'687, in Schweden 61'547 und in Tschechien 34'341. Wir haben also eine erheblich kleinere Basis und deshalb verdienen die drei WM-Finals von 2013, 2018 und 2024 oder auch Servettes Triumph in der Champions Hockey League die Bezeichnung Hockeywunder.
Die Schweizer haben am Donnerstag in Helsinki gegen die hoch motivierten Gastgeber die Dividende des WM-Finals eingelöst: Diese Dividende ist ein neues Selbstvertrauen, das sich in einem defensiv starken Auftritt zeigt. Und zugleich weckt Stéphane Charlin (24) bei dieser Verlängerungs-Niederlage (2:3) gegen die Finnen die Hoffnung, dass es bei der Heim-WM 2026 womöglich doch ohne Leonardo Genoni gehen (37) könnte.
Die Bestätigung folgt am Samstag mit einem Penalty-Sieg gegen die Schweden. Der erste Sieg gegen diesen Gegner seit achteinhalb Jahren oder 16 Niederlagen. Und Gilles Senn zeigt in seinem 21. Länderspiel, dass vielleicht auch er ein tauglicher WM-Torhüter werden kann: Er schüttelt einen Patzer (der zum 3:3 führt) ab wie ein Hund das Wasser aus dem Fell, hält alle Penaltys und ermöglicht den Sieg (4:3).
Wir sehen in diesen beiden ersten, taktisch und auch sonst überzeugenden Auftritten in Helsinki: Wir können mit den Besten aus unserer Liga den europäischen Titanen auf Augenhöhe begegnen.
Die Schweizer holen aus den beiden ersten Spielen ein Maximum heraus. Und müssen am Sonntag gegen Tschechien in der WM-Final-Revanche erfahren, auf wie dünnem Eis eben unser Hockeywunder steht. Sie verlieren 2:5 und die Ursachen der Niederlage sind aufschlussreich. Sportlich und politisch.
Drei WM-Silberhelden und der talentierteste Schweizer Stürmer der Liga sind abgereist: die Verteidiger Dean Kukan und Christian Marti sowie die Stürmer Denis Malgin und Sven Andrighetto. Sie brauchen eine Atempause. Es ist der Kniefall vor den Klubbossen: Die ZSC Lions treten am Dienstag auswärts im Stadion zum Pulverturm gegen die offenbar schier übermächtigen Tiger aus Straubing in der Champions Hockey League an. Nationaltrainer Patrick Fischer hat sich den Wünschen der Klubs aus der autonomen National League halt zu beugen.
Polemische Frage: Wie viel Einfluss hat eigentlich Präsident Stefan Schärer noch, der doch die Interessen des Verbandes gegenüber der Liga vertreten sollte? Und ergibt es wirklich Sinn, mit einem Team nach Helsinki zu fliegen, das nicht einmal für alle drei Partien zusammenbleiben kann?
Aber verzichten wir auf eine Polemik. Mit diesen vier ZSC-Titanen verliert das Team von Patrick Fischer Tempo und Kreativität (Malgin), Torgefährlichkeit (Andrighetto), Zweikampfstärke, Wasserverdrängung und Einschüchterungsvermögen (Marti) und den Verteidigungsminister (Kukan).
Patrick Fischer stellt alle Sturmlinien neu zusammen. Automatismen, Präzision, Zweikampfstärke und defensive Stabilität gehen zumindest teilweise verloren. Zu viele Ausfälle im Maschinenraum des Schweizer Spiels. Die 2:5-Niederlage ist die logische Folge, bringt aber immerhin zwei Highlights: Servettes Verteidiger Giancarlo Chanton (21) gelingt im dritten Länderspiel der zweite Treffer. Er ist ein hoffnungsvoller Kandidat für die WM 2026 in Zürich und Fribourg. Andres Ambühl (41) bucht in seinem 338. Länderspiel den 55. Treffer und ist immer noch ein Kandidat für die WM 2026. Aber Stéphane Charlin ist gegen Tschechien nur noch ein gewöhnlicher Goalie, kassiert im ersten Drittel drei nicht ganz unhaltbare Treffer und muss seinen Platz Gilles Senn überlassen. Geht es am Ende bei der WM 2026 doch noch nicht ohne Leonardo Genoni?
Immerhin hat der WM-Final 2024 eine positive Nachwirkung: Nationaltrainer Patrick Fischer gerät ob Niederlagen bei Operetten-Länderspielen nicht mehr in Kritik und Polemik. Der erneuerte silberne Ruhm hat seine Autorität gehärtet und gefestigt, und die Grenzen unseres Hockey-Wunders werden nicht mehr ihm angelastet. Sondern den äusseren Umständen, die weder er noch die Hockey-Götter zu ändern vermögen. «Freispruch» für Patrick Fischer also.