Der Meister verliert gegen den HC Davos 3:4 nach Penaltys. Nehmen wir einmal an, ein ausländischer Chronist besucht dieses Spiel. Er weiss nichts von den Irrungen und Wirrungen beim SCB in dieser Saison. Er kennt auch die Tabelle nicht. Er sieht nur diese eine Partie. Sein Urteil: Wow, was für ein Spektakel! Was für eine Dramatik! Kein Zweifel: Ein Spitzenkampf einer Lauf- und Tempo-Liga mit einem seltsam unglücklichen Verlierer.
Der Verlierer ein Krisenteam? Sicher nicht! Die Berner kämpfen leidenschaftlich. Sie geben nie auf. Sie lassen sich auch von einem kuriosen Gegentor nicht entmutigen. Sie gleichen dreimal wieder aus. Das 3:3 erzwingt Simon Moser. Es ist der erste Treffer für den Leitwolf ohne Fehl und Tadel seit 12 Spielen oder den zwei Toren gegen die Lakers am 12. Oktober. Diese Mannschaft ist intakt. Die Penalty-Niederlage ist keineswegs zwingend. Bloss ein Betriebsunfall.
Bei einer tiefergreifenden Analyse käme unser neutraler ausländischer Chronist zum Schluss, dass die Davoser den besseren Torhüter und die besseren ausländischen Spieler hatten und eine Spur präziser, lockerer, gelassener gespielt haben.
Er würde wohl auch denken: Selten verliert eine Mannschaft so seltsam, kurios, eigenartig, wunderlich, ja fast überdreht wie der SCB. Es ist, als hätten sich die Hockeygötter auf boshafte Art und Weise gegen die Berner verschworen.
Bevor der neue Torhüter auch nur einen Puck stoppen kann, steht oben auf der Resultatanzeige schon ein 0:1. Eine missglückte Angriffsauslösung ermöglicht einen Konter mit zwei Stürmern, die alleine auf den Goalie zulaufen können.
Als die Wende schliesslich trotz allem naht, ja förmlich in der Luft liegt, verhindert Sandro Aeschlimann mit der Parade der Woche das 3:2 für den SCB. Sozusagen im Gegenzug produzieren Torhüter Tomi Karhunen und Verteidiger Ramon Untersander das 2:3. Torhüter Sandro Aeschlimann hätte der SCB auch haben können. Aber das ist nur eine boshafte Anmerkung.
😱Hell, what? Was für ein Save von Aeschlimann! Oder wie es unser Kommentator sagt: Halleluja😍 pic.twitter.com/w9pOSA4zvp
— MySportsCH (@MySports_CH) November 29, 2019
Wenn Spieler nach neun Niederlagen in zehn Ernstkämpfen noch immer so couragiert auftreten wie die Berner gegen Davos – dann bilden sie mit ziemlicher Sicherheit die beste Krisenmannschaft der Geschichte. Zumindest hat seit Einführung der Playoffs noch kein Vorletzter so spektakulär und dramatisch verloren. Es ist, als stosse der SCB an eine gläserne Decke: Der Sieg ist sichtbar. Aber es gelingt nicht mehr, ihn zu fassen.
Logisch also, dass Tomi Karhunen nach seinem Debüt sagte, er sei beeindruckt, wie die Mannschaft die Rückstände aufgeholt habe. «Leider war ich nicht gut genug, um den Sieg im Penaltyschiessen zu sichern. Ich muss besser werden.» Er ahnt ja noch gar nicht, auf welches Abenteuer er sich da eingelassen hat.
Das macht die SCB-Krise so gefährlich: Eigentlich besteht bei solchem Leistungsvermögen kein Grund zu Panik. Wir sind doch gut genug! Es fehlt doch so wenig! Der Puck wird bald wieder unseren Weg gehen! Kein weiterer Handlungsbedarf! Keine Ursache, den Trainer in Frage zu stellen!
Im Kopf noch der Rausch des Ruhmes aus meisterlichen Zeiten, aber im sportlichen Portemonnaie bald nicht mehr genug sportliches Wechselgeld für die Playoffs. Die Hockey-Titanic neigt sich bedrohlich zur Seite. Aber die Lichter sind noch an, die Bordkapelle spielt, an der Bar wird nach wie vor Schaumwein ausgeschenkt und es wird getanzt.
Wenn der neutrale Beobachter aber dann erfährt, was in den letzten Wochen gelaufen ist, beginnt er zu verstehen, warum der SCB gegen Davos so verloren hat. Mit Willen, Mut und Leidenschaft wird die Unsicherheit, die sich schleichend in die Herzen, Köpfe und Hockey-Seelen der Berner geschlichen hat, kaschiert. Aber diese Unsicherheit ist immer noch da und steht wie ein Elefant in der Kabine.
Es ist nicht eine Krise, die wie ein brüllender Löwe im Berner Hockey-Tempel umhergeht. Es ist eine Krise, die sich wie ein Dieb in der Nacht eingeschlichen hat. Und der Dieb ist das missglückte Torhüter-Experiment.
Die Frage, die auf der Zunge brennt, lautet ja: War Tomi Karhunen bei seinem Debüt besser als Niklas Schlegel oder Pascal Caminada in den letzten Partien? Nein, noch nicht. Nicht statistisch und auch sonst nicht. Er ist kein ausländischer Goalie mit der Kragenweite eines Ari Sulander. Aber die Hoffnung, er möge der nächste Jakub Stepanek werden, wird noch lange leben.
Hätten die beiden bisherigen SCB-Goalies diesen Treffer zum 2:3 kassiert und vier von fünf Penaltys durchgelassen, so wäre die Kritik nun harsch. Wieder wegen Torhüterfehlern verloren! Das war eines dieser Spiele, das ein guter Goalie für den SCB hätte gewinnen können! Und mit allergrösstem Nachdruck würde die sofortige Herbeischaffung eines ausländischen Torhüters gefordert.
Jedes Missgeschick von Niklas Schlegel und Pascal Caminada ist zuletzt mit einem «schon wieder, wann wird gehandelt?» kommentiert worden. Nun darf Tomi Karhunen mit einer längeren Schonfrist rechnen und noch ein paar Fehler machen, die sich seine Vorgänger nicht mehr leisten konnten. Notgedrungen. Ein Zurück gibt es nicht mehr.
Der flinke Finne braucht Zeit. Zeit, die dem SCB immer mehr davonläuft. Nach sechs oder sieben Runden, als die, die sehen wollten, sehen konnten, dass das Experiment Schlegel gescheitert ist, hätte es noch bei weitem genug Angewöhnungszeit für einen neuen Torhüter gegeben. Diese Krise hätte die sportliche Führung vermeiden können. Das zerbrechliche SCB-Glück hängt nun davon ab, wie lange Tomi Karhunen braucht, um sein bestes Hockey zu spielen.
Wie sehr im Eishockey alles beim Torhüter beginnt und endet, zeigt sich beim HC Davos. Vor einem Jahr hat Arno Del Curto im allerletzten Moment vor dem Saisonstart Gilles Senn und Joren van Pottelberghe das Vertrauen entzogen und den NHL-Veteranen Anders Lindbäck geholt. Ein Lottergoalie.
Die Unsicherheit «frass» sich in die Mannschaft und der HCD erlitt die Schmach der Playouts. Mit einem Ensemble, das gut genug für einen Platz in der oberen Tabellenhälfte war. Verschärft wurde die Krise wie jetzt beim SCB durch ungenügendes ausländisches Personal.
👉Der neue SCB-Keeper gibt heute sein Debüt! Kommt mit ihm die Wende für die 🐻? #NationalLeague https://t.co/axW8CEecu7
— MySportsCH (@MySports_CH) November 29, 2019
Das Beispiel des HC Davos zeigt aber auch, welche Chancen zum Neuanfang eine Krise bietet.
Ein HCD ohne Arno Del Curto schien so undenkbar wie heute ein SCB ohne Kari Jalonen. Vor ziemlich genau einem Jahr Ende November 2018 hat der HCD-Trainer das Handtuch geworfen. Eine Ära ging zu Ende. Der Klub befand sich in der grössten sportlichen Depression seit den 1980er Jahren. So wie jetzt der SCB in der grössten Krise der Neuzeit steckt.
Und schon ein Jahr später spielt der HCD wieder «Arno-Hockey» wie zu den besten Zeiten. Der HCD, wie er singt und lacht. Es ist, als habe man Arno Del Curto in Bern nur deshalb nicht unten an der Bande gesehen, weil er kurz weg war, um ein Bier und einen «Bären-Zipfel» in der Stadionbeiz zu holen.
«Arno-Hockey»? Ja, aber mit einem kleinen, feinen Unterschied. Die Dynamik, die Energie, die Lauffreudigkeit, der Mut, der direkte Zug aufs Netz sind so wie einst in den meisterlichen Jahren unter Arno Del Curto.
Der kleine, feine Unterschied: Die Scheibe wird nicht mehr sofort und unkontrolliert und wild sofort nach vorne gedroschen. Der Aufbau ist jetzt ruhiger, präziser. Es ist besser strukturiertes, gepflegteres, gediegeneres, moderneres «Arno-Hockey.» Designer-Tempo-Hockey.
Wir können es auch so sagen: Arno Del Curto hat sich zwar mit seinem unsinnigen Goalie-Experiment um den Job gebracht. Aber er hat ein intaktes Erbe hinterlassen. Eine hochentwickelte Leistungskultur mit einer «Arno-DNA.»
Und so wundert sich der neue Sportdirektor Raeto Raffainer: «Unser Trainer muss die Spieler im Training nie antreiben. Die hohe Trainingsintensität ist selbstverständlich.»
Der Sturz in die Playouts hat den Neuanfang erst möglich gemacht. Und ein kluger Präsident hatte den Mut zum Neuanfang: Auf der Grundlage des Erbes von Arno Del Curto ist der HCD mit einem neuen Sportdirektor, einem neuen Trainer, einem neuen Goalie-Coach, neuen Assistenten, neuen bzw. rehabilitierten Torhütern und drei neuen Ausländern wieder in die Spitzengruppe der Liga gestürmt.
Ein Sturz in die Abstiegsrunde würde auch dem SCB den Neuanfang ermöglichen. Falls ein kluger SCB-General die Courage zum Neuanfang hätte. Es wäre möglich, auf den Grundlagen des Erbes von Kari Jalonen und der guten SCB-Leistungskultur mit einem neuen Sportdirektor, einem neuen Trainer, einem neuen Goalie-Coach, neuen Assistenten, neuen Torhütern und drei neuen Ausländer wieder in die Spitzengruppe der Liga zu stürmen.
Aber das darf der Chronist eigentlich gar nicht denken und schon gar nicht schreiben. Sonst heisst es wieder, er polemisiere ständig gegen den SCB. Deshalb entschuldigt er sich für die 449 Buchstaben des zweitletzten Abschnittes. Und bedankt sich bei SCB-General Marc Lüthi auf diesem Weg für die gute Unterhaltung in dieser Saison und erwartet als nächste Krisenmassnahme die Verpflichtung eines weiteren Ausländers.
Die Fangquoten von Nik / Pascal sind gar nicht so schlecht.
Das Problem des SCB ist ja wohl die Verteidigung.. aber eben.. Der Torwart ist immer der Sündenbock ;-)