Finnlands dritter Titel nach 1995 und 2011 ist der überraschendste und schönste. Wie wenig Hoffnung selbst beste Kenner der Finnen hatten, mag eine Episode illustrieren.
Ein langjähriger Betreuer des Teams bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen wollte zuerst gar nicht vom schönen Bratislava in die Provinz nach Kosice zum Viertelfinale gegen Schweden reisen. Mit der Begründung, gegen den übermächtigen Titelverteidiger sei nichts auszurichten. Schliesslich gelang es seinen Kollegen, ihn doch zur Fahrt nach Kosice zu überreden.
Keine Polemik. Keine Behauptungen. Bloss ein paar staubtrockene Zahlen. Damit wir verstehen, welch grandiose Leistung die Finnen vollbracht haben.
Schweden verliert im Viertelfinale gegen Finnland 4:5 nach Verlängerung.
Russland verliert im Halbfinale gegen Finnland 0:1.
Kanada verliert im Finale gegen Finnland 1:3.
Ja, sogar die Schweizer hatten mehr NHL-Prominenz im WM-Team.
2019 war die WM mit der bisher höchsten NHL-Salärsumme. Die Entwicklung:
WM 1990 in der Schweiz:
8,63 Millionen NHL-Salärsumme
WM 2006 in Lettland:
68,88 Millionen NHL-Salärsumme
WM 2017 in Frankreich/Deutschland:
263,075 Millionen Salärsumme
WM 2019 in der Slowakei:
388,49 Millionen Salärsumme
Die Finnen vertrauten auf mehr Spieler aus unserer National League als aus der NHL. Langnaus Harri Pesonen, Biels Toni Rajala und Lausannes Petteri Lindbohm. Aus der NHL kamen hingegen nur Henri Jokiharju und Jujo Lammikko.
Harri Pesonen ist mit 4 Toren und 3 Assists aus den 10-WM-Partien der zweitbeste Skorer des neuen Weltmeisters.
Hoffentlich vergessen die Langnauer nicht, beim Saisonauftakt am 13. September vor eigenem Publikum gegen Servette ihrem Weltmeister Blumen zu überreichen, ihn mit einer fünfminütigen Standing Ovation zu ehren und für ihn die finnische Hymne zu spielen. Zeit genug haben sie ja, dieses Tondokument zu beschaffen.
Auch Toni Rajala (1 Tor/4 Assists) und Petteri Lindbohm (1 Tor/3 Assists) haben alle 10 Partien bestritten.
Was lernen wir daraus? Die auch bei uns tief verwurzelte NHL-Gläubigkeit ist wieder einmal als Mythos entlarvt worden.
Natürlich ist die NHL die wichtigste, reichste und mächtigste Liga der Welt, setzt inzwischen mehr Geld um als alle anderen Ligen der Welt zusammen und zahlt die höchsten Löhne. Darüber braucht keine Debatte geführt zu werden.
Aber diese WM hat einmal mehr die sportliche Überlegenheit der NHL als Mythos entlarvt. Das Eishockey in den besten europäischen Ligen ist an einem guten Abend so gut und oft spektakulärer als eine NHL-Partie. Auch und gerade in unserer höchsten Liga. Aber die Show drumherum ist in Nordamerika eben besser. Kleider machen Leute, eine Show das sportliche Image.
Die Finnen haben im Viertelfinale den miserabel gecoachten Titelverteidiger Schweden vom Eis gefegt (32:18 Torschüsse/5:4 n.V).
Sie hielten im Halbfinale das Tempo der mit Abstand talentiertesten Mannschaft aus (29:32 Torschüsse/1:0 gegen Russland).
Sie widerstanden im Finale der Wucht und der Kraft der Kanadier (22:44 Torschüsse/3:1 gegen Kanada).
Sie waren smart, schnell, mutig und tapfer.
Die Finnen haben einmal mehr bewiesen: Namen sind nur auf dem Dress aufgenähte Buchstaben. Eishockey ist der letzte wahre Mannschaftsport.
In der WM-Skorerliste finden wir die drei besten Finnen auf Position 13. (Sakari Manninen), 27 (Kaapo Kaako und 29 (Harri Pesonen). Die drei besten Schweden auf den Rängen 1 (William Nylander), 14 (Pastric Hornqvist) und 17 (Alexander Weinberg). Die drei besten Russen auf den Plätzen 2 (Nikita Kutscherow), 3 (Nikita Gusew) und 11 (Jewgeni Dadonow). Die drei besten Kanadier klassierten sich als 5. (Mark Stone), 6. (Anthony Mantha) und 16. (Kyle Turris).
Die Tschechen hatten gar vier Spieler in den «Top Ten» und sind nicht über Platz 4 hinausgekommen. Die besten Schweizer sind Nico Hischier (27.) und Kevin Fiala (28.).
Und noch etwas: die Verwaltung der Energie ist bei so vielen Partien in so kurzer Zeit wichtig. Unter den 30 Spielern mit der längsten Eiszeit pro Spiel finden wir vier Schweden, zwei Kanadier, einen Russen – und keinen einzigen Finnen.
Kein einziger der neuen Weltmeister ist pro Spiel länger als 18 Minuten eingesetzt worden.
Bei den Russen waren es zwei, bei den Kanadiern drei und bei den vom neuen ZSC-Trainer Rikard Grönborg kurios gecoachten Schweden sieben. Bei den Schweizern übrigens vier. Aber von allen Top-Nationen ist das nummerische Potenzial der Schweiz mit 27'528 registrierten Spielerinnen und Spielern am kleinsten. Finnland hat 73'374, Kanada 637'000, Russland 110'624 und Schweden 62'401. Da hat es schon eine Logik, dass wir unsere Besten ein wenig mehr forcieren müssen.
Und schliesslich noch etwas: Mut, Taktik und Talent nützen nichts, wenn der Torhüter nicht «auf dem Kopf» steht. Wie Leonardo Genoni 2018. Wie nun Kevin Lankinen (24). Er hat im Viertelfinale, Halbfinale und Finale 89 von 94 Schüssen oder 94,68 Prozent abgewehrt. Er hat vor einem Jahr einen NHL-Vertrag mit Chicago unterschrieben, kam aber diese Saison in der NHL nicht zum Einsatz.
Leonardo Genoni hat zwei Partien gegen die Grossen bestritten und beim 0:3 gegen Russland und beim 2:3 gegen Kanada 70 von 76 Schüssen oder 92,10 Prozent pariert. Zu wenig. Hätte die Schweiz mit dem Leonardo Genoni der WM 2018 eine Chance auf den WM-Titel gehabt? Warum nicht? Unter der Voraussetzung natürlich, dass jeder an die grosse Chance geglaubt. In Bratislava und Kosice hat mit Ausnahme der Partie gegen Russland jeder daran geglaubt. Dafür sorgt Nationaltrainer Patrick Fischer.
Dieser finnische WM-Titel ist ein Mutmacher für die Schweizer. Der Gewinn einer WM ist auch für uns möglich. Unser WM-Team hatte nicht viel weniger Talent als die neue Weltmeister-Mannschaft.
Wenn es nun um die Vorbereitung auf die WM 2020 in Zürich und Lausanne geht (8. bis 24. Mai), muss das Motto heissen: «Always remember the Finns in 2019».
P.S. Mit Finnlands Titelgewinn haben die Hockey-Götter für Gerechtigkeit gesorgt. Bei der Frauen-WM sind die Finninnen nämlich diese Saison von den Video-Richterinnen um den WM-Titel betrogen worden.
Aber jetzt genug WM-Polemik.
In der Nacht auf Dienstag beginnen die Stanley Cup Finals, freuen wir uns doch darauf!
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