So selbstbewusst wie in Riga sind die Schweizer an einer WM noch nie aufgetreten. Die Philosophie des grossen Denkens von Patrick Fischer wird in diesen Tagen zum ersten Mal richtig gelebt. Der Aufstieg in die internationale Businessklasse ist ein jahrelanger Entwicklungsprozess, der 1998 mit der WM in der Schweiz begonnen hat. Erst Patrick Fischer hat nach seinem Amtsantritt vor sieben Jahren das Potenzial erkannt und wagt es, das höchste Ziel auch öffentlich zu nennen: den WM-Titel.
Captain Nino Niederreiter war bei den WM-Silberteams von 2013 und 2018 dabei. Er hat diese Entwicklung miterlebt und mitgeprägt. «2013 war alles wie ein Traum. Auf einmal standen wir im Final und wussten nicht recht, wie uns geschah. 2018 war es ein Auf und Ab und wir haben im Viertelfinal irgendwie einen Weg gefunden, um Finnland zu besiegen.»
Hockeytheoretisch sind die Schweizer im Viertelfinal gegen Deutschland mit 70:30 im Vorteil. Sie haben mehr Tore erzielt (29, die Deutschen 27), weniger Treffer kassiert (10/16) und mehr Punkte geholt (19/12). Sie haben die doppelte Anzahl NHL-Stammspieler im Team. Und sowohl Leonardo Genoni (96,61 %) als auch Robert Mayer (91,84 %) haben die klar bessere Fangquote als Mathias Niederberger (89,66 %), Deutschlands Antwort auf Leonardo Genoni.
Aber Eishockey wird auch in den Köpfen entschieden. Sind die Schweizer nach ihrem Aufstieg in die Weltklasse schwindelfrei? Haben sie sich inzwischen an die dünne internationale Höhenluft gewöhnt, die etwas ganz anderes ist als das milde Wetter in den Niederungen der Aussenseiter? Ist das neue Selbstvertrauen gefestigt? Bleiben sie ruhig und gelassen, egal wie der Gegner heisst? Lautet die Antwort auf diese Fragen «Ja», dann gewinnen sie den Viertelfinal gegen Deutschland. Komme, was wolle.
Aber es ist halt kein gewöhnlicher Viertelfinal. Weil der Gegner Deutschland heisst. Diese Partie ist die erste und ultimative Herausforderung für das in Riga erstmals richtig spürbare «Big Thinking».
In der Vergangenheit war eine Niederlage gegen Deutschland zwar ärgerlich und schmerzhaft. Aber letztlich doch ehrenvoll: Gegen Deutschland zu verlieren gehörte zu unserem Eishockey wie der Besuch beim Zahnarzt in richtigen Leben: Man kommt nicht darum herum. Wie zuletzt in den WM-Viertelfinals von 2010 in Mannheim (0:1) und 2021 in Riga (2:3 n. P.) oder 2018 im olympischen Achtelfinale (1:2 n. V.).
Das beste WM-Team der Geschichte. Das neue Selbstbewusstsein. Die Ausrichtung ganz aufs grosse Ziel Medaille – und dann ausgerechnet gegen Deutschland scheitern? Patrick Fischer müsste in einem solchen Fall die Kleider bis zur nächsten WM lüften, um den Schwefelgeruch dieser Niederlage aus den Kleidern zu bringen.
Die Schweizer sind zuletzt gegen Deutschland gescheitert, weil sie sich aus der Ruhe und von ihrem Spiel abbringen liessen. Wird Eishockey nach Schweizer Art gespielt und zelebriert, wird mehr gelaufen als gerumpelt, dann ist Deutschland chancenlos.
Bezeichnenderweise brachte uns im olympischen Achtelfinale 2018 ein Restausschluss von Cody Almond auf die schiefe Bahn. 2010 begann das Unglück mit einem frühen Restausschluss für Martin Plüss und alles endete mit einer Massenschlägerei. 2021 führten die Schweizer 2:1 und erstarrten im letzten Drittel vor Ehrfurcht, spielten nicht mehr richtig (4:13 Torschüsse!), kassierten in der letzten Minute den Ausgleich und verloren nach Penaltys.
Der Schlüssel zur richtigen Einstellung gegen Deutschland liefert die Statistik. Die beste Plus/Minus-Bilanz der Stürmer weisen Andres Ambühl und Enzo Corvi auf (+7). Die beiden stehen für die spielerische Leichtigkeit und Eleganz unseres Hockeys.
Nino Niederreiter wird gefragt, warum Andres Ambühl mit 39 noch immer so gut sei. «Ich denke, er ist entspannter geworden und geniesst einfach das Spiel.» Macht eine kurze Denkpause und sagt:
Wahre Worte des grossen Captains, die uns zum Problem führen: Irgendwie sind diese Auseinandersetzungen gegen die Deutschen mit all den Erwartungen und Emotionen mehr bitterer Hockeyernst als elegantes Spiel. Die Schweizer können gegen Deutschland nur gewinnen, wenn sie vor allem spielen. Mit Freude und Leidenschaft.
Wir werden heute gewinnen!