Eine Studie aus dem letzten Jahrhundert mag den ZSC Lions ein Trost sein. Im Rahmen der WM 1985 in Prag machten die Studenten der Universität eine Studie. Sie wiesen statistisch nach, dass fast 80 Prozent aller Tore nach schnellen Gegenstössen erzielt wurden. Solche Erkenntnisse waren damals, vor dem Zeitalter des computerisierten Hockeys, eine grosse Sache. Sie erklärten den sensationellen Sieg (und WM-Titel) der konterstarken Tschechoslowaken gegen die spielerisch viel besseren Sowjets.
Inzwischen hat sich vieles geändert. Aber nichts an der Weisheit der Prager Studenten. Tore werden immer noch in erster Linie nach Kontern erzielt. Das ist ein Grund, warum die SCL Tigers vor dem Spiel gegen die ZSC Lions nur fünf Punkte weniger auf dem Konto hatten. Die Emmentaler können mangels Talent gar nicht permanent stürmen. Sie müssen sich auf schnelle Gegenangriffe konzentrieren («Schlagen aus der Hinterhand»). Sie beherrschen die Kunst, aus wenig viel zu machen, und haben diese Saison auch schon viermal 2:1 und einmal gar 1:0 gewonnen. Aber gestern auch zum zweiten Mal 0:1 verloren.
Wer mit viel offensivem Talent gesegnet ist, dem fehlt oft die Geduld und der wartet nicht, bis sich eine Gasse zum Sturm in die gegnerische Zone öffnet. Die ZSC Lions sind dafür ein gutes Beispiel. Sie siegen trotz grossem offensivem Fleiss mühselig. Gegen Langnau 1:0 – mit 58:21 Torschüssen. Was Ivars Punnenovs eine der höchsten Fangquoten eines Torhüters eines Verliererteams eingebracht hat: famose 98,18 Prozent.
Typisch auch der Siegestreffer. Kein schneller, präziser Spielzug. Topskorer Fredrik Pettersson erkämpft draussen an der Bande die Scheibe, läuft nach innen und bezwingt den Goalie zum einzigen Tor des Spiels. Dieser leidenschaftliche Vorkämpfer ist für das Spiel seiner Mannschaft viel wichtiger als der zerbrechliche Schillerfalter Robert Nilsson, der auch gegen Langnau nicht einsatzfähig war.
Der ehemalige ZSC-Sportchef Edgar Salis bringt es auf den Punkt: «Eishockey wird zwischen den Ohren gespielt, nicht mit dem Bizeps.» Kopfsache also. Eine Frage des Selbstvertrauens. Der Schlüssel zum Erfolg: die Balance im Spiel finden. Sozusagen die Zauberformel. Nicht zu stürmisch vorwärts, aber auch nicht zu passiv. Von dieser Zauberformel sind die ZSC Lions nach wie vor weit entfernt. Um es in den Worten ihres ehemaligen Sportchefs zu formulieren: Nach wie vor stürmen die Zürcher zu wenig zwischen den Ohren und zu viel mit Bizeps.
Auf den ersten Blick hat der Wechsel von Hans Wallson zu Hans Kossmann wenig gebracht. Zumindest was die Resultate betrifft. Die sind nunmal die letzte Wahrheit in diesem Geschäft. Und doch hat sich etwas geändert: Kossmann hat seinen Jungs Beine gemacht. Sie stürmen.
Der optische Eindruck täuscht nicht. In den letzten zehn Partien unter Hans Wallson notierten die Statistiker 349 Torschüsse für die ZSC Lions. Daraus resultierten drei Siege. In den ersten zehn Partien unter neuer Leitung jedoch 410 Schüsse. Daraus resultierten vier Siege.
Aber als Schmirgelpapier-Psychologe hat es Hans Kossmann noch nicht geschafft, die Zauberformel zu finden und den offensiven Fleiss mit Selbstvertrauen und dem Mut zur Geduld zu verbinden. Erst ein einziges Mal passte alles zusammen: Vorwärtsdrang, Präzision, Wucht und Selbstvertrauen. Beim ersten Spiel unter Kossmann zerlegten die Zürcher Lugano 6:1. Da haben wir die wahren, die meisterlichen ZSC Lions gesehen.
Die ZSC Lions haben mit dem 1:0 gegen die SCL Tigers die Playoffs gesichert. Nicht theoretisch zwar. Aber praktisch. Auch wenn es die Resultate noch nicht vermuten lassen: Die Mannschaft wird für die Playoffs bereit sein. Trainer Kossmann hat den Löwen den Schlendrian ausgetrieben. Er kann in den Playoffs weit kommen. Ein guter Auftakt genügt und es wird so etwas wie der Funke ins spielerische Pulverfass sein. Wie 2012 (Meister vom 7. Platz aus). Oder wie 2016 in Bern (Meister vom 8. Platz aus).
Denn eines ist in den letzten Wochen beinahe vergessen gegangen: Lukas Flüeler spielt an einem guten Abend wieder wie ein Meistergoalie. Er hat in den zehn Partien unter dem neuen Trainer viermal mehr als 95 Prozent der Schüsse abgewehrt. Kossmann setzt auf ihn als Nummer 1.
Nach dem 1:0 können wir sagen: Die ZSC Lions sind für die Playoffs bereit. Das milde, freundliche, träge machende Leistungsklima unter den Palmen von Oerlikon ist endlich wieder frostiger geworden und auf Playoff-Temperatur gesunken. Remember 2012!