Nationaltrainer Patrick Fischer (46) erklärt die Lage nach dem Gruppensieg und vor dem WM-Viertelfinal gegen die USA mit Beispielen aus dem richtigen Leben: «Wir haben die Sekundarschulprüfung bestanden. Jetzt geht es weiter.» Und sagt auf Nachfrage: Ja, er habe damals die Prüfung bestanden. Als er noch ein Schulbub war, kam man nur mit bestandener Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule.
Der Vergleich passt: Den Gruppensieg müssen sich die Schweizer gegen Deutschland sichern. Ein Unentschieden nach 60 Minuten genügt zwar. Aber ein Ziel gegen die Deutschen zu erreichen, ist kein prüfungsfreier Übertritt in die Sekundarschule: Die beiden letzten wichtigen Partien – der Olympische Viertelfinal 2018 und der WM-Viertelfinal 2021 – gingen verloren. Deutschland, der Angstgegner. Das Spiel gegen Deutschland ist also eine Sekundarschulprüfung für die jungen Männer in eisernen Schuhen und ritterähnlichen Ausrüstungen. Sie wird mit Bravour bestanden: Sieg (4:3) nach Penaltys. Reto Berra lässt sich nicht bezwingen. Nico Hischier und Damien Riat treffen.
Andres Ambühl (38, erste WM 2004) hat gegen die Deutschen mit seinem dritten Treffer (sein 24. WM-Tor) zum 1:0 getroffen. Als neuer Weltrekordmann (inzwischen 122 WM-Partien) steht er im medialen Rampenlicht wie wohl noch nie. Nach der Partie gibt er in Hochdeutsch (den Deutschen), in Mundart (den Schweizern) und in fliessendem Englisch dem preisgekrönten kanadischen Chronisten Lucas Aykroyd Auskunft.
Und nun, da die Sekundarschul-Prüfung bestanden ist, geht es am Donnerstag mit dem Viertelfinal weiter. Wenn der Gruppensieger gegen den Vierten der anderen Gruppe spielt – wer ist dann Favorit? Der Gruppensieger. Die Schweiz.
Die Schweizer bekommen den zumindest theoretisch leichtesten Gegner: Tschechien (dirigiert vom grossen Kari Jalonen), Finnland oder Schweden wären eine Schuhnummer grösser.
Bis auf vier Spieler stehen zwar alle Amerikaner in der NHL in Lohn und Brot. Trotzdem sind die Schweizer in allen wichtigen Statistiken klar besser: im Powerplay, im Boxplay und in der Abschluss-Effizienz.
Das wichtigste Plus ist die Routine: Die Schweizer bringen die Erfahrung aus 554, die Amerikaner bloss aus 137 WM-Partien aufs Eis und haben seit Einführung des Playoff-Modus (1992) den Final noch nie erreicht. Aber in den letzten zehn Jahren fünfmal Bronze geholt. 2015 verlor die Schweiz gegen die USA den Viertelfinal (1:3) und 2013 gewann die Schweiz den Halbfinal (3:0). Beide Male mit Reto Berra im Tor und beide Male waren die Schweizer Aussenseiter. Jetzt sind sie zum ersten Mal Favorit.
Beim olympischen Turnier in Peking noch im Viertelfinal gegen Finnland gescheitert (nur ein Sieg im Turnier) und jetzt sieben Siege in Serie, die offensiv beste Mannschaft, das beste Powerplay, zum zweiten Mal nach 2013 WM-Gruppensieger: Diese Steigerung der Schweizer in knapp drei Monaten ist erstaunlich. Patrick Fischer sagt, das Team in Helsinki sei jünger und hungriger.
Die halbe Mannschaft ist aus verschiedenen Gründen (Verletzungen, nicht nominiert, in Peking keine NHL-Spieler) ausgewechselt worden. Das mag zeigen, welche international konkurrenzfähige Breite unser Hockey inzwischen hat.
Patrick Fischer erklärt diese Entwicklung wiederum mit einem Beispiel aus der realen Welt: Die Mannschaft sei jung und wild und jage den Puck und den Gegner bis zum Schluss. Früher habe bei einer Führung das Sicherheitsdenken überwogen. Das sei nun anders. «Wir jagen weiter, bis zur Entscheidung. Wir sind ein Wolfsrudel. Wölfe jagen und es stimmt etwas nicht, wenn sie rückwärtsgehen.»
Helsinki ist bereits das 8. Titelturnier für Patrick Fischer. Aus dem Zauberlehrling, der noch bei seiner ersten WM 2016 eher ein Tafelmayor war, ist ein charismatischer Bandengeneral geworden. Seine Position, anfangs umstritten, ist inzwischen mit Vertrag bis 2024 «zementiert». Er ist gelassener, ruhiger und noch selbstsicherer geworden. Ob Medaille oder Scheitern im Viertelfinal wird daran nichts ändern. Er sagt: «Es kommt nun auf ein einziges Spiel an.» Da könne alles passieren. «Du kannst das beste Spiel machen und trotzdem verlieren.»
Wo er recht hat, da hat er recht: Wir können es nicht oft genug sagen: Eishockey ist ein unberechenbares Spiel auf eisiger Unterlage – und da kann ein Wolfsrudel auch nach bestandener Sekundarschulprüfung ins Rutschen kommen.
Wobei: Ein so dramatisches Scheitern am Donnerstag gegen die USA wie zuletzt im Final 2018 gegen Schweden (Niederlage nach Penaltys), im Viertelfinal 2019 gegen Kanada (Ausgleich nach 59:59 Minuten, Niederlage in der Verlängerung) und 2021 gegen Deutschland (Ausgleich nach 59:16 Minuten, Niederlage nach Penaltys) könnten schon zu einem Komplex führen.
Wir wären dann fast so etwas wie die Hockey-Antwort auf das Penaltyversagen der Engländer: Angefangen hat der Leidensweg bei der WM 1990 im Halbfinal gegen Deutschland. Anschliessend verloren die Engländer fünf von sechs Penalty-Entscheidungen bei Titelturnieren in der K.O.-Phase.
Das möge uns im Hockey erspart bleiben.