Alle Dämme brechen. Schweden, das perfekte Team, eigentlich unbesiegbar, zuvor während allen acht Partien nie im Rückstand und seit dem letzten WM-Titel von 2018 (Finalsieg gegen die Schweiz) ohne Medaille und Final auf einer Mission der Wiedergutmachung, wird mit 7:3 Eis gefegt.
Wobei: Gefegt ist nicht das richtige Wort. Schweden dominiert mit 40:23 Torschüssen. Aber mit einem perfekten Spiel, vielleicht dem perfektesten, taktisch wunderbarsten, das wir in den letzten Jahren bei einer WM gesehen haben, gewinnen die Tschechen 7:3.
Es ist die Perfektion der tschechischen Hockeykunst. Der tschechischen Schule des schnellen Gegenangriffes («Turnover»). Einst von den Tschechen in den 1960er- und 1970er-Jahren «erfunden» und an der Sporthochschule in Prag theoretisch perfektioniert und zur taktischen Kunstform entwickelt, um gegen die erdrückende Dominanz der Sowjets zu bestehen. Unvergessen der WM-Triumph von 1985 in Prag.
Das Einfuchsen der Taktik ist heute nicht mehr so möglich wie im letzten Jahrhundert. Als Nationalteams während einer ganzen Saison taktisch gedrillt werden konnten. Die Tschechen haben das gleiche Problem wie alle anderen auch: Ein WM-Team wird erst kurz vor dem Turnier komponiert. Elf kommen aus der NHL, zwei aus der Schweiz: Captain und Leitwolf Roman Cervenka stürmt für die Lakers und Davos löhnt Matej Stransky. Dominik Kubalik (Ottawa) ist einst in Ambri zum NHL-Stürmer gereift. Wie Kevin Fiala ist auch er soeben Vater geworden.
In den Grundzügen ist das Spiel der Tschechen durchaus ähnlich wie jenes der Schweizer. Und ebenfalls abgesichert von einem Weltklasse-Goalie (Lukas Dostal, Anaheim). Gegen ein Team, das keine Räume für Konter lässt und schlau und geduldig defensiv spielt, haben die Tschechen Mühe. Wie bei der Penalty-Niederlage in der Vorrunde gegen die Schweiz (1:2).
Verteidiger Radko Gudas hat eine weitere Qualität seines Teams auf den Punkt gebracht: Er rühmt den Zusammenhalt der Gruppe, die Fähigkeit, Lösungen auf dem Eis zu finden. «Wir reden so viel wie möglich zusammen, wir unterstützen uns gegenseitig, wir geben nie auf.» Dieser Zusammenhalt ist neben der Taktik die zweite ganz grosse Qualität – und auch das ist eine Parallele zu den Schweizern. Seit 2012 (Bronze) haben die Tschechen nur noch eine Medaille geholt (Bronze 2022), aber sechsmal den Viertelfinal verloren (2013 gegen die Schweiz). Die Heim-WM 2024 ist das grosse Ziel. Nationaltrainer Kari Jalonen («Schablonen-Kari») ist trotz Bronze 2022 aus einem laufenden Vertrag gefeuert und auf diese Saison durch Radim Rulik ersetzt worden. Zu viele Spieler wollten unter Kari Jalonen nicht mehr fürs Nationalteam spielen.
Tschechien ist kein «Angstgegner» der Schweizer. Sie haben vor der WM die Tschechen am 5. Mai im letzten Vorbereitungsspiel in Brünn besiegt (2:1) und hier in Prag in der Vorrunde (2:1 n. P.). Was sogar zum Schluss verleiten könnte, die Schweizer seien Favorit. Das ist natürlich Unsinn: Die Tschechen sind nach dem 7:3 im Halbfinal gegen Schweden im emotionalen Ausnahmezustand. Alle Zweifel sind fortgeschwemmt. Das Selbstvertrauen ist jetzt unerschütterlich. Seit Jahren ist nie mehr ein Team vor den eigenen Fans im Halbfinal so «explodiert» und hat eine solche Euphorie in der Arena geweckt. Die Mannschaft, die in der Vorrunde gegen uns 1:2 nach Penaltys verloren hat, ist zwar erheblich verändert worden: Neu sind mit Martin Necas (Carolina), David Pasternak (Boston) und Pavel Zacha (Boston) drei NHL-Stürmer ins Team nachgerückt. Aber nur Necas (1 Tor/4 Assists) hat die «Feuerkraft» signifikant erhöht. Zacha hat einen Treffer beigesteuert, Pasternak, ermüdet nach der NHL-Saison, hat noch nicht getroffen.
Der emotionale Ausnahmezustand gilt aber auch für die Schweizer, die mit dem besten WM-Team der Neuzeit eine Titelchance haben, die vielleicht jahrelang nicht wiederkehren wird.
Taktisch auf Augenhöhe, mit einem ebenso starken Zusammenhalt und einem Coach aus der eigenen Hockeykultur, durch den Penalty-Sieg gegen Weltmeister Kanada ebenso emotional aufgeputscht und mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen – die Chancen im Final stehen 50:50. Die Energie aus dem Publikum (die Stimmung wird grandios sein) treibt zwar die Tschechen an. Aber der Erwartungsdruck ist maximal: Die Chance auf den ersten Titel seit 2010 ausgerechnet in Prag gegen die Schweiz vergeben – das wäre die ultimative Schmach.
Gerade wegen der emotionalen Ausnahme-Situation für beide Teams ist alles, wirklich alles möglich: Die Dämme können brechen und es kann eine Kanterniederlage absetzen. Aber ebenso gut ist ein Drama, ein intensives taktisches Schachspiel, eine Verlängerung, ein Sieg, der erste WM-Titel für die Schweiz möglich.
Es wird das schwierigste Spiel für die Schweizer. Schwieriger als gegen Deutschland und Kanada. Aber grundsätzlich gilt: Tschechien besiegen und Weltmeister werden – warum eigentlich nicht?