Die Hockeygötter meinen es gut mit Langnau. Sie haben den Emmentalern mit Stéphane Charlin den besten Torhüter der Liga geschenkt. Aber die Langnauer verschmähen dieses Geschenk, als sei es «vergiftet». Also haben sich die Hockeygötter gerächt und die SCL Tigers haben das Derby gegen den SC Bern durch einen Treffer 4,8 Sekunden vor Schluss 4:5 verloren.
Nein, der Chronist will nicht entgegen seinen Gewohnheiten polemisieren. Schon gar nicht gegen Langnau. Das sei fern von ihm. Also wählen wir eine sachliche, unverdächtige und objektive Variante. Nehmen wir an, ein Hockeyfan aus Schweden oder Finnland, der keine tieferen Einsichten in die Verhältnisse im Bernbiet hat, habe auf der Durchreise beschlossen, das Derby zu besuchen. Das wäre kein Problem gewesen. Der Tempel war nicht ganz ausverkauft. Es waren «nur» 16'891 Männer, Frauen, Buben und Mädchen herbeigeeilt und es hätte an der Abendkasse noch 140 Tickets gehabt.
Das Urteil dieses neutralen Beobachters: Der SC Bern hat mit allem Glück der Welt gewonnen, weil Langnaus letzter Mann ein Lottergoalie war. Langnaus letzter Mann – Luca Boltshauser – strahlt von der ersten bis zur letzten Sekunde keine Sicherheit aus. Mindestens zwei, bei kritischer Betrachtungsweise sogar drei Treffer waren nicht unhaltbar. Ein Blick in die Statistik sagt: Ja, exakt so war es. Adam Reideborn hat 83,33 Prozent der Pucks abgewehrt und Luca Boltshauser 86,11 Prozent. Beide Quoten miserabel. Es hätte Langnau für einen sicheren Sieg gereicht, wenn der Goalie mindestens eine bescheidene Quote von 90 Prozent erreicht hätte.
Die Langnauer hätten einen Goalie, der diese Quote erreicht, ja mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weit übertroffen hätte. Mehr noch: Sie könnten jederzeit den besten Torhüter der Liga einsetzen. Stéphane Charlin hat bisher 95,33 Prozent der Pucks gestoppt. Mit Abstand der beste Wert der gesamten Liga. Er hat 12 der bisher 18 gespielten Partien gewonnen. Mit dem Punktedurchschnitt der Spiele mit Stéphane Charlin würden die SCL Tigers auf Rang 3 stehen.
Luca Boltshauser hat inzwischen 9 seiner 10 Spiele verloren. Mit einer Fangquote von 87,32 Prozent. Sein bisher einziger Sieg: 4:1 gegen Ajoie am 28. September. Was inzwischen niemand sagt, aber alle denken: Wenn Luca Boltshauser im Tor steht, dann weiss man tief drinnen im Hockeyherzen, wo weder Trainer Thierry Paterlini noch Sportchef Pascal Müller hineinsehen: Heute reicht es nicht. Die Frage ist also: Warum hat in Bern nicht Stéphane Charlin gespielt? Trainer Thierry Paterlini wird hinterher sagen: «Boltshauser hat sich diesen Einsatz hart erarbeitet. Wir haben so geplant, dass er in Bern spielt.» Hart erarbeitet bedeutet: durch Leistungen im Training.
Nun können wir einwenden, dass Stéphane Charlin nicht jede Partie bestreiten kann und heute mehr Spiele zu bestreiten sind als in den Zeiten von Edgar Grubauer und Martin Gerber. Er brauche doch auch eine Ruhepause. Diese Argumentation ist barer Unsinn. Sieben (!) Torhüter – Reto Berra, Tim Wolf, Harri Säteri, Simon Hrubec, Kevin Pasche, Sandro Aeschlimann und Niklas Schlegel – haben diese Saison bereits mehr Partien bestritten als Langnaus Nummer eins. Es gibt keinen sachlichen Grund, warum Stéphane Charlin nach dem grandiosen 3:0 in Davos am Mittwoch nun nicht auch zwei Tage später in Bern, am Samstag gegen Lugano und am Montag gegen Lausanne spielen könnte. Selbst sein Agent Gaëtan Voisard stellte verwundert fest, dass sein Klient in Bern nur Ersatz war, und sagte: «Stéphane würde problemlos mehr Spiele verkraften.»
Erst zweimal in ihrer Geschichte hatten die Langnauer den besten Torhüter der Liga: Edgar Grubauer in den 1970er-Jahren und später Martin Gerber. Mit Edgar Grubauer sind die Emmentaler 1976 zum bisher einzigen Mal Meister geworden; mit Martin Gerber – der es in Schweden zum Meister und in Amerika zum Stanley-Cup-Sieger und Dollar-Millionär bringen sollte – sind sie 1998 aufgestiegen und haben sich in der höchsten Liga gehalten.
Und nun haben sie zum dritten Mal den besten letzten Mann der Liga. Edgar Grubauer und Martin Gerber sind nie zwecks Schonung nicht eingesetzt worden. Die Langnauer wussten damals diese Geschenke der Hockeygötter zu schätzen. Aber nun verschmähen sie dieses Geschenk und verbannen ohne Not Stéphane Charlin immer wieder auf die Ersatzbank.
Eigentlich wissen ja alle, dass das eine Kalberei sondergleichen ist. Deshalb hat die Szenerie nach dem Spiel im Bärengraben – im Vorraum im Bauch des Hockey-Tempels vor den beiden Kabinen – hohen Unterhaltungswert. Ja, es ist grandioses, absurdes Theater. Natürlich wird Langnaus Trainer Thierry Paterlini befragt. Und allen ist eigentlich klar, was das Thema, das einzige Thema sein müsste: «Warum in aller Welt setzen Sie Stéphane Charlin nicht ein?» Aber so direkt wagt denn doch niemand zu fragen. Claude Jaggi, der SRF-Kultreporter, der für einmal nicht fürs Fernsehen, sondern fürs staatstragende Radio vor Ort ist, lässt Thierry Paterlini ein wenig über Versäumnisse im Mitteldrittel fabulieren und drängt ihm geradezu die Aussage auf, er sei mit Luca Boltshauser zufrieden und der Goalie sei keinesfalls für die Niederlage verantwortlich.
Natürlich: Ein Trainer, der bei Sinnen ist, wird niemals – niemals! – seinen Torhüter öffentlich kritisieren. Auch dann nicht, wenn er genau weiss, dass sein Team wegen des Goalies verloren hat. Das ist – um einen Vergleich aus dem richtigen Leben heranzuziehen – ungefähr so, wie wenn die Gattin ihren Angetrauten fragt: «Liebst du mich noch?» Dann wird die Antwort immer und sogar nach einer ersten Konsultation mit einem Scheidungsanwalt sein: «Natürlich, Liebling.» So ist Ruhe im Haushalt.
Die Frage ist natürlich: Warum betrachten die Langnauer Stéphane Charlin sozusagen als «vergiftetes» Geschenk der Hockeygötter? Ganz einfach: Stéphane Charlin wird Langnau Ende Saison Richtung Genf oder Nordamerika verlassen. Das bedeutet: Nächste Saison sollte Luca Boltshauser die Nummer eins sein. Da muss man doch jetzt alles Menschenmögliche tun, um ihn bei Laune zu halten, sein Ego hegen und pflegen, kämmen und bürsten! Deshalb muss man ihn auch in wichtigen Spielen wie dem Derby einsetzen! Wir müssen auch an die Zukunft denken!
Das ist – excusez l‘expression – völlig unsinnig und die grösste Torheit in der Geschichte der Langnauer Hockeykultur (seit 1946). Luca Boltshauser wird im Juli 32. Er ist weit in der Hockeywelt herumgekommen: Zürich, Färjestad, Kloten, Lausanne und seit 2022 Langnau. Er hat viel erlebt und erlitten. Unter anderem Klotens Abstieg 2018, den er auch mit grandiosen Leistungen nicht zu verhindern vermochte. Er weiss, was Sache ist. Er weiss, dass er ausser Form ist. Deshalb hatte er im Derby von der ersten bis zur letzten Sekunde die Ausstrahlung eines Lottergoalies.
Das ist kein Problem. Nächste Saison ist der übermächtige Stéphane Charlin nicht mehr da, Luca Boltshausers Ego wird wieder genug Sauerstoff und Sonnenlicht bekommen. Er wird wieder eine ordentliche Nummer eins sein, so wie schon in seiner ersten Saison in Langnau (2022/23), als Stéphane Charlin noch ein Zauberlehrling und kein Titan war.
Thierry Paterlini ist einer der besten Trainer in Langnaus Geschichte. Aber er macht sich zu viele Gedanken. Ein Trainer sollte immer so coachen, als gäbe es kein Morgen. Gemessen wird er sowieso immer nach der Wahrheit oben auf der Resultatanzeige. So hat Heinz Ehlers die Langnauer im Frühjahr 2019 zum bisher letzten Mal in die Playoffs dirigiert. Das Denken und Sorgen, was nächste Saison sein könnte, kann Thierry Paterlini ruhig seinem Sportchef Pascal Müller überlassen. Der ist dafür bezahlt. Oder den Pferden. Die haben die grösseren Köpfe.