Das Trauma «WM-Start» ist überwunden. Viermal hintereinander hatten die Schweizer im Startspiel gegen den Aufsteiger Punkte abgegeben. Und nun war die Ouvertüre gegen Aufsteiger Italien ein Spektakel sondergleichen. Traum statt Trauma. Wie ist das möglich?
In erster Linie ist es eine Kopfsache. Die Zuversicht war also kein Irrtum. Die Schweizer haben diese Partie nicht nur mit der kontrollierten Arroganz der Grossen hinter sich gebracht. Sie haben sie mit einer erfrischenden Spielfreude geradezu zelebriert. Mit Direktpässen das Spiel beschleunigt. Mit Kombinationen als «Alpen-Russen» begeistert und Szenenapplaus geerntet wie einst die Sowjets, die noch besser waren als die heutigen Russen.
Spätestens nach dem 3:0 durch Lino Martschini, dem ersten Treffer im fünften WM-Spiel für den Zauberzwerg (168 cm), ist aus dem Spiel eine Party, eine «Martschiniade» geworden: Kunst und Spektakel, freie Räume und Entfaltungsmöglichkeiten für alle. Auch für die Kleinsten.
Partystimmung allenthalben. Im zweiten Drittel wird Andres Ambühls Portrait auf dem Videowürfel eingeblendet. Der Speaker gratuliert zum 100. WM-Spiel und über die Soundanlage wird für die Nummer 10 der Schweizer Tina Turners Hit «Simply the Best» eingespielt.
So viel Party. So viel Sorglosigkeit. So viel spielerische Leichtigkeit. Zu viel Leichtigkeit? Gar eine «unerträgliche Leichtigkeit des Seins» nach dem Roman des tschechischen Autors Milan Kundera? Nein. Es war Kopfsache, das Trauma «WM-Start» zu überwinden. Nun ist es Kopfsache, aus diesem Traumstart keine falschen Schlüsse zu ziehen. Wer sich so gut auf das Startspiel einstellen konnte, wird auch dazu in der Lage sein, am Sonntag mit der richtigen Einstellung ins zweite Spiel gegen Lettland zu gehen.
Dieses 9:0 mag auf den ersten Blick ein spielerisches Muster mit geringem Analysewert im Hinblick auf die nächsten Partien sein. Es ist der höchste Sieg der Schweiz auf höchstem Niveau seit dem 12:0 gegen Finnland 1952 in Oslo.
Die Italiener waren mit Abstand der schwächste Gegner der Neuzeit. Bereits nach ein paar Minuten löste sich die Ordnung auf und es wurde ein Spiel ohne Defensive und geringer Intensität.
61:19 Torschüsse zeigen einerseits die krasse, beinahe absurde und statistisch grösste Überlegenheit der Schweizer seit Einführung der offiziellen Schusszählung an einer WM. Die Russen haben sich beispielsweise im Startspiel gegen Norwegen (5:2) mit 27 Torschüssen begnügt.
Auf den zweiten Blick lassen sich durchaus sieben positive Erkenntnisse aus diesem Spektakel ziehen.
Erstens: Die Stimmung ist vortrefflich, die Spielfreude ansteckend, das Selbstvertrauen gross (und berechtigt) wie noch nie bei einem WM-Start der «Ära Fischer».
Zweitens: Reto Berra ist in WM-Form. Die Konzentration in diesem Spektakel- und Partyspiel nicht zu verlieren und bei den defensiven Nachlässigkeiten der Vordermänner keinen Gegentreffer zu kassieren, ist auch eine Leistung.
Drittens: Kevin Fiala (drei Tore, ein Assist) ist an der Seite des genialen Mittelstürmers Nico Hischier ein Offensivspieler, der bei diesem Turnier auch in den «richtigen» Partien als «X-Faktor» die Differenz machen kann.
Viertens: Wir haben beim WM-Debut noch nicht den besten Nico Hischier gesehen. Er war technisch brillant, aber noch nicht so dominant wie dann, wenn er sein bestes Hockey spielt. Er ist eben ein Spieler für intensives Hockey (NHL) und grosse Partien und nicht für Operettenspiele. Trotzdem buchte er ein Tor und zwei Assists. Die Hoffnungen sind berechtigt, dass Nico Hischier und Kevin Fiala bei dieser WM in den grossen Partien ein «Traumpaar» sein werden.
Fünftens: die Ausgeglichenheit ist vielversprechend. Jede der vier Formationen hat mindestens einen Treffer erzielt.
Sechstens: Die offensive Feuerkraft der Schweizer ist bemerkenswert. Ja, die neun Treffer sind gegen eine Operetten-Verteidigung erzielt worden. Aber das schmälert nicht den Wert der Offensivleistung. Das 9:0 und die 61:19 Torschüsse sind eine Kombination aus der Qualität der Schweizer und der Schwäche der Italiener.
Siebtens: Sogar die Gelegenheit zu einem Weltrekord ist verpasst worden. Seit die Einsatzzeiten nach Minuten und Sekunden gestoppt werden, hat noch nie ein Feldspieler bei einer WM eine ganze Partie durchgespielt. Der letzte Verteidiger, der das Eis während eines ganzen Spiels nie verlassen hat, war Langenthals kanadischer Kultspielertrainer Ted Snell in den 1970er Jahren in der damaligen NLB.
Roman Josi hätte gegen diese Italiener 60 Minuten durchspielen und einen Weltrekord aufstellen können. «Nein, 60 Minuten hätte ich nicht spielen können» sagt er auf die entsprechende Scherzfrage. Aber wahrscheinlich war es doch das einfachste Spiel seiner Karriere. Die Frage war nämlich, ob er in der NHL je so eine Partie erlebt habe. «Nein». Mit der Nationalmannschaft? «Nein». Mit dem SC Bern? «Nein».
60 Minuten bei einer WM durchspielen zu wollen, wäre natürlich völlig sinnlos, arrogant und absurd. Aber inzwischen braucht es schon das Absurde, um die Überlegenheit der Schweizer ins richtige Licht zu setzen.
Sven Andrighetto wird morgen zur Mannschaft dazu stossen und wird wohl einen Platz in einer Linie erhalten. Aber für wen? Keine Linie und kein Spieler ist massiv aus dem Kollektiv abgefallen.
Aber bitte Chlöisli keine Polemik verbreiten, auf dem Boden bleiben ubd nicht übertreiben. Grööl