Er ist da! Endlich! Das erste Interview mit Nino Niederreiter (26) machen die Reporter unseres staatstragenden Fernsehens nicht erst hier in Bratislava. Sie eilen ihm entgegen und befragen ihn bereits nach der Ankunft im Flughafen zu Wien. Von dort sind es dann noch 51 Kilometer mit der Benzinkutsche ins Stadion.
Nino Niederreiter. Ein Titan (188 cm, 88kg). Ein 20-Tore-Stürmer aus der NHL mit einem Salär von 6,076 Millionen Dollar. WM-Silberheld von 2013 und 2018. Bei diesen zwei Turnieren hat er insgesamt neun Tore erzielt. Logisch also, dass seiner Ankunft schon fast mythische Bedeutung beigemessen wird.
Der doppelte Silberheld muss nicht Retter in der Not sein. Das Schweizer WM-Team ist durch und durch intakt, fabelhaft gecoacht, taktisch gut geschult und die Viertelfinals sind längst in trockenen Tüchern. Noch vor zehn Jahren wären alle mit dem hochzufrieden gewesen, was die Mannschaft bereits erreicht hat.
Doch die Viertelfinals sind nicht genug. Das Halbfinale ist richtigerweise das Ziel. Die Schweizer haben genug Talent für eine Medaille.
Aber die Schwingen der Zweifel haben nach zwei Niederlagen gegen Schweden (3:4) und Russland (0:3) die Seelen der Spieler gestreift. Nur sanft, fast unmerklich. Aber eben doch.
Der Grund ist das ungenügende Powerplay. Das «Kraftspiel», wenn eine Mannschaft mit einem Spieler mehr das gegnerische Tor belagern darf. Bei ausgeglichenen Partien macht das Powerplay oft die Differenz.
Die Schweizer spielten bisher kein gutes Powerplay. In den Partien gegen Schweden (3:4) und Russland (0:3) haben sie während mehr als 20 Minuten(!) Powerplay kein einziges Tor erzielt. Und übers ganze Turnier beträgt die Erfolgsquote 12,90 Prozent. Ein ungenügender Wert. Die grossen Teams erreichen an einem guten Abend eine Erfolgsquote von über 30 Prozent.
Die Sehnsucht nach Nino Niederreiter ist eng mit diesem Versagen im Überzahlspiel verknüpft. Wenn gute Worte und fleissiges Training nichts mehr bewirken, dann wird eine einzelne Persönlichkeit die grosse Hoffnung. Im Eishockey ein Trainer oder eben ein Spieler.
Die Schweizer haben das grosse Glück, dass sie nun noch einen Spieler ins Team holen dürfen. Nino Niederreiter.
Von ihm wird eine doppelte Wirkung erhofft. Seine Präsenz wird das Selbstvertrauen jedes einzelnen Spielers stärken. So nach dem Motto: wir haben Nino, also sind wir besser. Auf dem Eis wird erwartet, dass er den gordischen Knoten unseres Powerplays löst. Der Ausdruck bezeichnet die kunstvoll verknoteten Seile am Streitwagen des Königs Gordios. Gemäss der griechischen Sage sollte ein Weltreich erobern, wer diesen Knoten zu lösen vermag. Niemandem wollte es gelingen. Dann kam Alexander der Grosse, durchschlug den Knoten mit seinem Schwert und eroberte ein Weltreich. Und so bedeutet heute «den gordischen Knoten durchschlagen» die Überwindung eines schier unlösbaren Problems mit unkonventionellen Mitteln.
Das passt gut zur erhofften Wirkung von Nino Niederreiter im Powerplay. Er kommt direkt aus der NHL, der härtesten Liga der Welt und räumt vordem gegnerischen Tor so richtig auf-und ab, rumpelt, sorgt für Unruhe und vielleicht sogar für Panik. Er steckt Schläge ein und teilt Schläge aus. Erschafft gewaltsam Platz (=Wasserverdrängung) und nimmt dem Goalie die Sicht. So wie es im Powerplay gemacht werden muss und bisher nicht gemacht worden ist.
Zudem ist der Stock in der Hand von Nino Niederreiter für den Gegner so gefährlich wie einst das Schwert in der Faust von Alexander dem Grossen für die Perser. Nicht im Sinne einer Waffe. Sondern im Sinne eines Zauberstabes: er ist so begabt, dass er heranfliegende Pucks ins Tor abzulenken (wichtig im Powerplay) oder weit ausholend oder aus dem Handgelenk ins gegnerische Netz zu schiessen vermag.
Nino Niederreiter wird also im Powerplay eingesetzt. Und sonst? Es wäre eigentlich logisch, wenn er neben Nico Hischier über die Aussenbahnen fegen würde. Aber nicht logische, sondern unkonventionelle Lösungen machen die Differenz. Nino Niederreiter stürmte im ersten Training an der Seite von Gaëtan Haas und Sven Andrighetto.
Nino Niederreiter, der Held ist also da. Nun hat uns Bertold Brecht zwar sinngemäss gelehrt, unglücklich sei eine Mannschaft, die einen Helden brauche. Aber von Sport hat er nichts verstanden.
Da halten wir uns lieber an Friedrich Dürrenmatt und hoffen, Nino Niederreiters Ankunft möge die Mannschaft der Schweizer so beleben wie die Ankunft der Milliardärin Claire Zachanassian einst das beschauliche Dorf Güllen im Drama «Der Besuch der alten Dame.»