Die Niederlage, die Differenz zwischen Bern und Lausanne, ist in drei Sekunden erklärt. Lausannes Verteidiger Andrea Glauser zirkelt den Puck präzis wie ein Landvermesser mit einem langen Pass in den Lauf von Jiri Sekac. Der Topskorer läuft auf und davon und zwickt die Scheibe unhaltbar zum 1:3 ins Netz. Ein Verteidiger, der einen Angriff auslösen kann, und ein ausländischer Stürmer, der ins Tor trifft. Das, was der SCB nicht hat.
Das ist die Erklärung für die Niederlage. Aber nicht die Erklärung für die SCB-Krise. Die SCB-Krise hat viel tiefere Ursachen. Sie hat nichts mit Verletzungspech oder anderen nicht beeinflussbaren Faktoren zu tun. Sie ist zu hundert Prozent hausgemacht. Selbst die als faule Ausrede vorgebrachte personelle Not in der Verteidigung. Es war die freie Entscheidung von Sportchef Andrew Ebbett, eine Ausländerlizenz für Cody Coloubef zu verschwenden. Der Kanadier war schon letzte Saison der schwächste ausländische Verteidiger der Liga.
Wir könnten eine Liste der Versäumnisse, Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre erstellen. Den Niedergang des Meisters von 2016, 2017 und 2019 und Qualifikations-Siegers von 2017, 2018 und 2019 mit klugen Analysen erklären und mit statistischen Studien erläutern. Es wäre auch leicht, zu polemisieren. Sündenböcke zu benennen. Personelle Konsequenzen zu fordern.
Für all das ist es zu spät. Der SCB hat seit dem letzten Titel von 2019 alle möglichen Krisenszenarien längst durchgespielt: zwei Trainer nicht mehr weiterbeschäftigt und drei entlassen, zuletzt Johan Lundskog. Neun verschiedene Assistenten beschäftigt (darunter die SCB-Ikone Mark Streit). Hektisch Ausländer – mindestens 15 an der Zahl – ein- und ausgeflogen. Teure Schweizer Transfers gemacht und den teuersten davon (Sven Bärtschi) soeben für das Spiel gegen Lausanne auf die Tribüne strafversetzt. Zwei Sportchefs gefeuert. Einen neuen Manager angestellt und einen neuen Präsidenten gewählt. Die Fans zu einer Kabinenpredigt eingeladen. Neue, prominente Mitbesitzer und Investoren (Mark Streit, Roman Josi) bekommen. Mehr geht nicht. Der SCB hat die unruhigsten, turbulentesten, dramatischsten drei Jahre des 21. Jahrhunderts hinter sich.
Weitere personelle Veränderungen, die Inszenierung eines neuen Krisentheaters, Ausreden und Werbeaktionen helfen dem SCB nicht weiter. Der SCB ist am gefährlichsten Punkt seiner neueren Geschichte (seit dem Wiederaufstieg von 1986) angelangt. Entweder ist es ein Wendepunkt. Wenn nicht, wird der SCB das Lugano des Nordens. Verurteilt, von seiner ruhmreichen Vergangenheit zu träumen, und ohne realistische Aussichten auf neuen Ruhm. Mit dem Unterschied, dass sich Lugano den Charme der Erfolglosigkeit und sportliche Melancholie leisten kann.
Der SCB nicht. Der SCB ist nicht im Besitz einer freundlichen, verständnisvollen und klugen Milliardärin, die für jeden Verlust geradesteht. Der SCB muss als Hockey- und Gastrokonzern mit fast 60 Millionen Umsatz sein Geld im freien Markt der bernischen Unterhaltungsindustrie in Konkurrenz mit YB erwirtschaften. Kommen die Zusehenden nicht mehr, gehen zusehends die Lichter aus. Inzwischen fehlen pro Spiel bereits rund 1000 Anwesende. Das ist ein Einnahmeverlust von gegen 100'000 Franken. Pro Heimspiel.
Der SCB ist darauf angewiesen, dass er Emotionen weckt. Die ganze Bandbreite. Enttäuschung, Zorn, Freude, Unverständnis, Zustimmung, Euphorie, Niedergeschlagenheit, Scham, Ratlosigkeit, Stolz, Zorn, Ablehnung, Heiterkeit. Am besten in einer guten Mischung. Aber ein Gefühl darf beim SCB nie – niemals! – aufkommen: Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist der gefährlichste Dämon der SCB-Geschichte.
Nun hat sich dieser Dämon beim 1:4 gegen Lausanne zum ersten Mal in den Berner Hockey-Tempel geschlichen. Weniger als 14'000 Zuschauerinnen und Zuschauer. So viele Sitze sind seit Menschengedenken bei einem so kapitalen Spiel nicht mehr leer geblieben.
So vielen Anhängerinnen und Anhängern war der SCB noch nie gleichgültig. Noch schlimmer: Während des letzten Drittels sind viele schon vor der letzten Sirene einfach nach Hause gegangen. Abgewandert. Sie sind nicht geblieben, um ihren Unmut am Schluss des Spiels kundzutun oder sich in einer der Beizen im Stadion über die SCB-Misere aufzuregen. Vor Spielschluss eines noch nicht entschiedenen Hockeyspiels nach Hause gehen – ein stärkeres Zeichen der Gleichgültigkeit gibt es in Bern nicht.
Es ist einfach viel zu viel passiert beim SCB und dann doch nichts passiert. Der SCB ist in der Wahrnehmung des Publikums von einer Titelschmiede zu einer Gastro- und Vermarktungsmaschine verkommen, die seit dem Frühjahr 2019 nur noch leeres sportliches Stroh drischt: 2020 Rang 9, 2021 Rang 9, 2022 Rang 11 und jetzt ist Platz 13 noch drei Verlustpunkte entfernt. Es scheint inzwischen egal, welche Schritte unternommen, welche Erklärungen abgegeben werden. Es ändert sich nichts mehr. Das ist die Grundstimmung beim Publikum. Das ist die Gleichgültigkeit rund um den SCB. Das ist dieser gefährlichste aller Dämonen.
Alles, was Präsident Marc Lüthi, Manager Raëto Raffainer, Sportchef Andrew Ebbett und Trainer Toni Söderholm noch bleibt, ist, die Nerven zu behalten. Die Ruhe zu bewahren. Denn jetzt sind die Spieler an dem Punkt angelangt, an dem es keine Ausreden mehr gibt. Das SCB-Schicksal wird nun in der Kabine entschieden. Sind die Spieler dazu in der Lage, sich zusammenzuraufen, zusammenzustehen und nach einer der schmählichsten Niederlagen seit 1986 – vielleicht war es sogar die schmählichste – wieder aufzustehen? Das ist die Frage.
Wenn sich die Dämonen der Gleichgültigkeit auch noch in der Kabine einnisten, dann gerät der SCB in Playout-Gefahr. Die Frage lautet also: Ist die Ruhe von Trainer Toni Söderholm ein Zeichen von stiller Zuversicht und unerschütterlichem Selbstvertrauen oder von Resignation?
Nach dem Spiel ist Ruhe im Bärengraben, diesem grossen, weiten Innenhof zwischen der SCB- und der Gästekabine. Die Berner trotten mit hängenden Köpfen vom Eis. Kein Stock wird zertrümmert. Niemand flucht. Nirgendwo werden Türen zugeknallt. Nullkommanull Emotionen.
Bereits nach kurzer Zeit erscheint Trainer Toni Söderholm und steht Red und Antwort. Der Finne ist freundlich, spricht leise und ruht in sich selbst. Es ist also nicht so, dass er innerlich vor Zorn bebt und sich zusammennehmen muss. Seine Ausführungen kurz zusammengefasst: Laut werden helfe nicht, die Mannschaft müsse gemeinsam einen Weg aus der Krise finden. Er kritisiert keinen der Spieler. Er redet aber auch nichts schön. Purer Realismus ohne Emotionen.
Der neue SCB-Trainer ist vom Temperament her ein Stoiker. Ein Stoiker ist ein Trainer, der mit emotionaler Selbstbeherrschung sein Los akzeptiert und mit Gelassenheit und Seelenruhe seiner Arbeit nachgeht. Nie hat der Chronist in den letzten 30 Jahren einen Trainer erlebt, der nach einer so schlimmen Niederlage so ruhig und gefasst war wie Toni Söderholm nach dem 1:4 gegen Lausanne.
Ruhe ist intern auch deshalb erste Bürgerpflicht beim SCB, weil Toni Söderholm einen Vertrag bis zum Ende der nächsten Saison (!) bekommen hat. Ein erneuter Trainerwechsel ist schon aus finanziellen Gründen undenkbar.
Ruhe ist aber auch geboten, um den hochtalentierten jungen Torhüter nicht weiter zu verunsichern. Beginnt Philip Wüthrich (25) zu zweifeln, zerbricht die SCB-Defensive vollends. Und die Offensive (vier Treffer, davon ein Eigentor in den letzten drei Partien) wird nur dann wieder belebt, wenn der flamboyante offensive Leitwolf und taktische Freidenker Chris DiDomenico wieder Chris DiDomenico wird. Zeitweise war er Liga-Topskorer. Nun hat er in den vergangenen sechs Partien keinen einzigen Skorerpunkt mehr beigesteuert.
Der Kanadier ist eine sensible, leidenschaftliche, aber manchmal auch eigenwillige und bisweilen egoistische Künstlernatur. Keiner hasst Niederlagen so sehr. Mit dieser Einstellung kann er seine Spielkameraden mitreissen – oder sich in die Isolation manövrieren. Sollte sich seine Leidenschaft in «Frustrationsenergie» verwandeln und schliesslich in Gleichgültigkeit münden und ihn zum Problemspieler machen, wird der SCB gegen Ajoie die Playouts bestreiten. Toben? Nein. Toben hilft auch bei Chris DiDomenico nicht.
Die Legende geht, der SCB habe eine grandiose Leistungskultur. In den nächsten Wochen werden wir sehen, ob es sich bei dieser Leistungskultur um eine Legende handelt – also ein längst vergangenes Phänomen – oder ob diese Leistungskultur immer noch Wirklichkeit ist. Ob der SCB den Spielern und dem Publikum gleichgültig ist oder nicht. Ob der SCB eine Zukunft als Bayern München des Hockeys hat oder vor quälenden Jahren der sportlichen und wirtschaftlichen Stagnation steht.
Der SCB ist am Wendepunkt seiner Geschichte angekommen.
Einem richtigen Fan, und das sind die meisten, nachdem das Publikum „gesundgeschrumpft“ wurde, wird gestern ganz sicher nichts gleichgültig gewesen sein!
Golubef genügt mir vor allem wegen seiner Einstellung nicht. Der Fehler gestern war pure Arroganz!