Lars Leuenberger strahlt auch nach dieser bitteren Niederlage die Gelassenheit und Zuversicht aus, die grossen Trainern in heiklen Situationen eigen ist. Ein Chronist stellt ihm keine Frage und sagt nur: «2013.» Als ob er genau das erwartet hätte, sagt Gottérons Trainer mit leiser Heiterkeit: «Ja, und ich war beim SCB dabei.» Hält kurz inne und kommt zum durchaus richtigen Schluss: «Sie sind auf der Suche nach einer Polemik und finden sie wieder mal in der Vergangenheit. Das kennt man. Aber wir beschäftigen uns mit der Gegenwart.»
Die Vergangenheit ist aber zu interessant, um nicht noch kurz darin zu verweilen. 2013 taumelt der SCB trotz allerlei Unzulänglichkeiten gegen Servette mit 4:3 durch den Viertelfinal und wird später Meister. Der SCB ist 1:3 in Rückstand geraten und steht im 5. Spiel vor eigenem Publikum mit dem Rücken zur Wand. Und gewinnt in der Verlängerung 2:1, verkürzt auf 2:3, bodigt Servette in den zwei restlichen Partien und zieht in den Halbfinal ein.
Und nun ist der SCB 12 Jahre später erneut gegen ein Team aus dem Westen 1:3 in Rückstand geraten und steht im 5. Spiel vor eigenem Publikum mit dem Rücken zur Wand, gewinnt in der Verlängerung 3:2 und verkürzt auf 2:3. «Mythos 2013». Oder?
Manchmal sind die Parallelen zur Vergangenheit interessant. Bereits 2013 auf dem Matchblatt waren aus der aktuellen Mannschaft Samuel Kreis als einziger Verteidiger sowie die Stürmer Joël Vermin und Tristan Scherwey. Und an der Bande stand eben Lars Leuenberger als Assistent von Antti Törmänen.
Es gibt allerlei kluge Worte, was Geschichte sei und was nicht. Dass sie sich wiederhole oder eben nicht oder als Farce. Dass sich Geschichte reime. Zu diesem wahrlich dramatischen Viertelfinal passt am besten: Geschichte ist eine Philosophie, die uns durch Beispiele lehrt. Eben durch das Beispiel Viertelfinal 2013.
Befassen wir uns mit der Gegenwart. Ganz so, wie es Lars Leuenberger richtig sagt. Diese fünfte Partie wird geprägt durch einen unerwarteten Helden. Torhüter Philip Wüthrich. Er ist mit einer Fangquote von 92,59 Prozent besser als Reto Berra, Gottérons Titan in diesem Viertelfinal (91,67 Prozent).
Jussi Tapola hat also Adam Reideborn wieder auf die Tribüne gesetzt und erneut den letzten Mann gewechselt. Hier sei eine Randbemerkung erlaubt: Ein ausländischer Torhüter, dem der Trainer für ein so kapitales Spiel das Vertrauen entzieht, hat keine Zukunft mehr. Es obliegt nun Obersportchef Martin Plüss und Untersportchef Patrik Bärtschi, für den Schweden einen Abnehmer zu finden, der den weiterlaufenden Vertrag übernimmt. Oder den Vertrag per Saldo aller Ansprüche aufzulösen. Kostet etwas. Aber sie sollten noch etwas zuwarten. Vielleicht wird Adam Reideborn ja den SCB noch zum Titel hexen … Ende der Randbemerkung.
Jussi Tapola rühmt Philip Wüthrich (nächste Saison in Ambri) ausdrücklich: «Er kommt zurück und zeigt eine so starke Leistung. Das spricht auch für seinen Charakter und seine Persönlichkeit.» Dieses Lob ist noch fast untertrieben. Philip Wüthrich spielt trotz Vertrauensentzug nach dem ersten Spiel nun unter maximalster Belastung in einer Partie, die der SCB nicht verlieren darf (eine Niederlage bedeutet das Saisonende) sein bestes Hockey. Mehr geht nicht.
Wer boshaft ist, kritisiert Jussi Tapolas Goalie-Wechselspiel, das eigentlich in den Playoffs so tabu und selten ist, wie Fremdgehen während einer Hochzeitsnacht. Tatsächlich aber spricht dieses Wechselspiel in diesem Falle für den finnischen Erfolgstrainer: Es ist die hohe Kunst eines grossen Coaches, zu spüren, welcher seiner Männer in besserer Verfassung ist. Umstellungen, solche, die wir oft nicht verstehen, haben ihre Ursache in eben diesem Gespür für Form und Energie. Aber wenn Jussi Tapola für die 6. Partie bei Gottéron den Goalie erneut wechselt, dann werden ihn die Hockey-Götter bestrafen.
Dieser Viertelfinal ist geprägt durch erstaunliche Unzulänglichkeiten im SCB-Spiel. Die wichtigsten: defensive Aussetzer und eine ungenügende Chancenauswertung (10 Tore aus 171 Abschlussversuchen). Die Anzahl der defensiven «Schreckmümpfeli» haben die Berner etwas reduziert, das Powerplay funktioniert ordentlich und die offensive Flaute ist nicht nur dem eigenen Versagen, sondern auch dem wehrhaften Reto Berra geschuldet.
Den Siegestreffer lenkt Waltteri Merelä im Powerplay zum 3:2 ins Netz. Er steht für den SCB, für den «Mythos 2013», für das Aufstehen in einer schon fast aussichtslosen Situation.
Der finnische Stürmer wird durch einen fürchterlichen Check von Julien Sprunger bis in die Grundfesten durchgeschüttelt und muss kurz die Kabine aufsuchen. Dann kehrt er zurück und trifft akkurat 8,8 Sekunden vor dem Ende des ersten Verlängerungsdrittels im Powerplay zum 3:2. Auch das passt zum «Mythos 2013». Für Gottéron sass Christoph Bertschy auf der Strafbank. Er stürmte 2013 noch für den SCB.
Jussi Tapola wird gefragt, ob sein Vorkämpfer und Topskorer keine Nachwehen durch den Check von Julien Sprunger habe. «Nein, nein. Er ist eben ein Finne mit Sisu.» Sisu? Der Ausdruck steht für eine spezielle mentale Eigenschaft und ist seit dem 20. Jahrhundert in Finnland, das seine Unabhängigkeit und Freiheit in blutigen Kriegen erkämpfen und verteidigen musste, in ganz besonderem Masse identitätsstiftend. Sisu bedeutet in der finnischen Kultur «Kraft», «Ausdauer» oder «klaglose Beharrlichkeit», auch «Unnachgiebigkeit» oder «Kampfgeist» oder «Durchhaltevermögen» (besonders in anscheinend aussichtslosen Situationen). Jussi Tapola hält kurz inne und ergänzt: «Aber auch Schweizer haben Sisu.»
Es ist fast so, als lebe der SCB-Trainer in dieser aufwühlenden Viertelfinalserie erst so richtig auf. Ohnehin ist er – gemessen an der durchschnittlichen finnischen Mentalität – überaus kommunikativ und hat Sinn für Selbstironie. In diesen Tagen wirkt er gut gelaunt wie nie seit seiner Ankunft in Bern im Sommer 2023. Das macht Sinn: Wenn der Chef nicht Zuversicht, Esprit, Optimismus ausstrahlt, dann sind seine Untergebenen verloren. Kurzum: Beim SCB ist alles für eine Wiederholung des «Mythos 2013» aufgegleist.
Aber Eishockey ist ein unberechenbares Spiel auf einer rutschigen Unterlage ohne Sinn für die Geschichte.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
PS: Hätte Julien Sprunger für den Check gegen Waltteri Merelä mit fünf Minuten und Restausschluss bestraft werden müssen? Ja. Haben die Schiedsrichter also versagt? Nein. Dass der «First Impact», also der erste Aufprall, den Kopf des Finnen trifft, ist erst nach intensivem Studium verschiedener Videos aus verschiedenen Winkeln ersichtlich. In Echtzeit scheint der Check zwar fürchterlich, aber regulär zu sein. Die Schiedsrichter müssen in Echtzeit entscheiden, und zwar gilt der Grundsatz: Nur eine Strafe anzeigen, wenn man sicher ist. Keine Strafen auf Vermutungen. Es ist also nachvollziehbar, dass sie keine Strafe ausgesprochen haben. Die einzige Kritik: Es wäre vielleicht klüger gewesen, auf fünf Minuten zu entscheiden und das Video zu konsultieren. Über Schiedsrichterentscheide jammern Verlierer und kleine Trainer. Lars Leuenberger und Jussi Tapola haben im Verlaufe dieser Serie noch nie die Schiedsrichterleistung als Ausrede vorgebracht. Beide sind grosse Trainer.
Zu Sprunger, von einem Spieler wie ihm, der schon ein par Folgenschwere Checks einstecken musste, erwarte ich mehr Rücksicht auf die Gesundheit der Gegenspieler.
Ansonsten macht es Spass zuzuschauen, möge der bessere gewinnen.