Zu den faszinierenden Besonderheiten der Eishockey-Kultur gehören Storys. Die Erzählung von Geschichten. Das Schwelgen in der Erinnerung. Die Erinnerungen sind die Gärten der Eishockeyspieler und Chronisten, aus denen sie nicht vertrieben werden können. In keiner anderen Sportart werden so gerne Geschichten ausgetauscht wie im Eishockey. Alle haben etwas zu erzählen: die Spieler, die Coaches, die Scouts, die Materialwarte, die Fans, die Eismeister, die Statistiker.
Wahrscheinlich hat diese Besonderheit etwas mit der Herkunft des Spiels zu tun. Eishockey ist in Kanada erfunden worden und als Nationalsport in der kanadischen Verfassung verankert. Die kanadische Kultur hegt und pflegt wie vielleicht keine andere in der westlichen Welt die Kunst des Erzählens. Es gibt sogar den Canadian Storytelling Day und der grosse Ralph Krueger hat in seinen jungen Jahren einmal in einem entsprechenden Wettbewerb in seiner Heimat einen Preis gewonnen.
Eishockey ist das Spiel aus Kanada, einem grossen, weiten Land. Bevor es das Fernsehen gab, haben sich die Menschen draussen in der unendlichen Prärie Geschichten erzählt, um die langen Winternächte zu verkürzen. Alfred Wellington «Al» Purdy (1918–2000) ist Kanadas Nationaldichter. Was für unseren Jeremias Gotthelf die Kultur der Bauern war, das war für Al Purdy das Eishockey.
Es spielt sicherlich auch eine Rolle, dass die Welt des Eishockeys eigentlich eine kleine ist. Jede kleine Runde mahnt ein wenig an ein Familientreffen, bei dem es gilt, Tratsch, Klatsch und Erinnerungen auszutauschen. Es gibt kaum etwas Kurzweiligeres als ein Gespräch mit einer Hockey-Legende. Ich habe mich mit Paul DiPietro unterhalten, einem Spieler aus dem Land, aus der Kultur von Al Purdy.
Welches grosse 30-Jahre-Hockey-Jubiläum feiern wir im Frühjahr?
Paul DiPietro: Ist ja klar, woran Sie denken: Vor 30 Jahren gewannen die Montréal Canadiens 1993 als letztes kanadisches Team den Stanley Cup …
… Und Sie gehörten zu diesem Team.
So ist es. Es hat seither drei grosse Feiern gegeben: nach zehn Jahren und nach 25 Jahren. Bei der 25-Jahre-Feier war ich leider nicht dabei. Aber die Party zum 30-jährigen Jubiläum werde ich nicht verpassen.
Aber eine Party wie 1993 nach dem grossen Triumph wird es wohl nicht mehr sein.
Nein, definitiv nicht.
Wie war das damals 1993?
Verrückt. Die Feierlichkeiten dauerten 14 Tage.
14 Tage? Im Ernst?
Ja, zwei Wochen lang von einem Empfang zum nächsten. Feiern ohne Ende. Nach 14 Tagen war ich fix und fertig. Ich zog mich in das Haus meiner Eltern in Sault St. Marie zurück und brauchte einen Monat, um mich vollständig erholen zu können.
Sie konnten sich wohl damals nicht vorstellen, Ihre Karriere in der Schweiz fortzusetzen.
Ich konnte mir gar nichts vorstellen. Ich war 22 Jahre alt und genoss einfach den Moment. Ich war zu jung, um die Bedeutung dieses Erfolges richtig erfassen zu können.
Leben eigentlich noch alle Ihre Teamkameraden?
Nein, Todd Ewen ist nicht mehr. Es ist eine Tragödie. Er hat sich das Leben genommen. Er war unser Mann fürs Grobe und doch sehr sensibel. Einmal hat er mich im Bus auf der Fahrt vom Flughafen zum Stadion um eine Rolle weisses Isolierband gebeten. Daraus hat er in kürzester Zeit eine Torhüterstatue gemacht. Er war ein Künstler.
Es gibt eine Legende: Ihr Grossvater sei im Dress begraben worden, das Sie damals während der Saison 1992/93 getragen haben.
Die Legende haben Sie tatsächlich gehört?
Ja, von Leuten aus Montréal, die es wissen müssen.
Wissen Sie was? Es stimmt. Auf dem Dress waren die Unterschriften aller Spieler und man hat mir dafür gut 30'000 Dollar geboten. Aber wir haben unseren Grossvater in diesem Dress zu Grabe getragen.
Warum?
Es war einfach so.
Sie waren ein wichtiger Spieler im Team der Montréal Canadiens. Warum hat es trotzdem nicht für die grosse Karriere gereicht?
Das ist eine gute Frage. Ich war wohl zu sehr auf mich allein gestellt und spielte zu wenig konstant. Damals musste jeder für sich schauen. Anders als heute gab es damals keine Skill-Coaches und sonstige Spezialisten, die sich um die Spieler kümmerten.
Dann hätten Sie unter heutigen Bedingungen wahrscheinlich eine NHL-Karriere gemacht.
Möglicherweise.
Sie wechselten dann nach Europa. Zuerst eine Saison nach Deutschland, dann nach Ambri.
Ich hatte eine Offerte, in der NHL zu bleiben. Aber einen Zweiwegvertrag. Das Farmteamhockey wollte ich mir nicht mehr antun. In der AHL gab es damals 82 Spiele, manchmal drei in drei Tagen. Das war noch verkraftbar. Aber gespielt wurde mit bloss drei Linien und einem Goon.
Also mit neun Stürmern und einem Mann fürs Grobe.
So war es.
Da gab es wenigstens keine Klagen über zu wenig Eiszeit.
Aber es war anstrengend.
Wie sind Sie ausgerechnet nach Ambri gekommen?
Doug Gilmour hatte mir einmal gesagt, er habe in der Schweiz gespielt (während des Lockouts 1994/95, 9 Spiele mit 15 Punkten bei den Lakers – die Red.) und es habe ihm sehr gefallen. Ambris Sportchef Jacques Noël hat mich während meiner Saison in Kassel im Frühjahr 1998 zu einem Spiel nach Ambri eingeladen. Es war eine Playoff-Halbfinalpartie gegen Zug und es ist hoch zu und hergegangen. Da war für mich klar: Hier will ich spielen.
Mit Oleg Petrow haben Sie dann gleich in ihrer ersten Saison die Liga dominiert und Ambri zum Qualifikationssieg und in den Playofffinal von 1999 gegen Lugano geführt.
Ja, aber ich habe kein Spiel in der gleichen Linie wie Oleg begonnen.
Ich habe doch unzählige Male gesehen, wie Sie mit Oleg durch die gegnerischen Linien getanzt sind!
Ja, aber immer nur im letzten Drittel oder im Powerplay.
Wie bitte?
Ja, so war es. Larry Huras hat uns nur im letzten Drittel und im Powerplay zusammen aufs Eis geschickt.
Warum denn das?
Das habe ich auch nie herausgefunden. Das müssen Sie mal Larry fragen. Es war eine grossartige Zeit. Ambri ist eines der besten Teams, in denen ich je gespielt habe.
Fast wie die Montréal Canadiens von 1993?
Fast.
Wer waren eigentlich in Montréal in den Playoffs Ihre Linienkollegen?
Meistens Denis Savard und Gilbert Dionne.
Die Legende geht, dass Sie im Final gegen die Los Angeles Kings oft den Auftrag hatten, Wayne Gretzky zu neutralisieren.
So war es.
Sie mussten gegen den Grössten aller Zeiten zum Bully antreten?
Ja.
Hatten Sie einen Heidenrespekt?
Er war einfach mein Gegenspieler beim Bully.
Sie haben ihn nicht mit Trash-Talk provoziert?
Nein. Ich habe nichts gesagt und er auch nicht. Wir haben ihn sowieso nicht provoziert. Wir wollten ihn nicht aufwecken.
Die Wende in diesem Final war der zu stark gekrümmte Stock von Marty McSorley. Los Angeles hatte das erste Finalspiel gewonnen und führte im zweiten Spiel in Montréal 2:1. Da liess Montréals Cheftrainer Jacques Demers den Stock von Marty McSorley nachmessen, die Kings kassierten eine Zweiminutenstrafe, im Powerplay gelang das 2:2 und die Kings verloren in der Verlängerung.
Das war so. Die Kings haben einen der Helfer in unserem Stadion, die sich jeweils um das Gästeteam kümmerten, beschuldigt, uns die Information über den zu stark gekrümmten Stock zugesteckt zu haben. Das war Unsinn. Die brauchten einfach einen Sündenbock. Aber diese Anschuldigung hat dem armen Mann so zugesetzt, dass er seit diesem Tag nie mehr gesehen worden ist.
Ein bisschen unheimlich.
So wird es in Montréal erzählt.
Stanley-Cup-Sieger 1993, Finalist mit Ambri und dann der grosse Sieg mit der Schweiz gegen die kanadischen NHL-Stars beim olympischen Turnier von 2006. Sie haben bei diesem 2:0 beide Tore erzielt. Waren das die besten zwei Treffer ihrer Karriere?
Nein. Dieser Sieg war in allererster Linie ein Sieg des Teams. Denken Sie nur an die Paraden von Martin Gerber! Meine zwei wichtigsten Tore habe ich 1993 im fünften Finalspiel gegen die Kings zum 1:0 und 4:1 erzielt.
Sie haben Ambri als eines der besten Teams bezeichnet. Was ist speziell bei Ambri?
Die Rivalität mit Lugano. Ich habe mit Montréal gegen Quebec und gegen Boston zwei der heissesten Derbys in der NHL gespielt. Aber Ambri gegen Lugano übertrifft alles. Nicht nur, was die Stimmung betrifft. Bei einem Derby habe ich Sicherheitskräfte mit Gewehren gesehen und man hat mir gesagt, die seien geladen. Oh Mann, da wusste ich, dass die Sache ernst ist.
An welchen Moment im Final von 1999 erinnern Sie sich immer noch?
An den Weitschuss von Misko Antistin.
Der im dritten Spiel zum 1:2-Anschlusstreffer geführt hat. Dieser haltbare Treffer war der Wendepunkt in diesem Final.
Wir tun Pauli Jaks unrecht. Ich erinnere mich einfach an Misko Antisin, wie er geschossen hat.
Dann wechselten Sie nach nur einer Saison in Ambri nach Zug. Warum?
Mein damaliger Agent Roly Thompson meinte, in Zug sei die Chance wahrscheinlich am grössten, eine Meisterschaft zu gewinnen. Die waren ja 1998 Meister geworden.
Was nicht gelungen ist. Warum?
Es fehlten uns zwei, drei Spieler.
Zwei, drei fehlende Teilchen zu einem Meisterpuzzle?
Das ist gut gesagt.
Dann haben Sie den Schweizer Pass bekommen …
… und damit sind die Schweiz und Kanada, die zwei besten Länder, nun meine Heimat.
Wie sieht Ihr All-Star-Team aus der Zeit in unserem Hockey aus?
Das ist aber eine schwierige Frage. Okay, beginnen wir mit den Verteidigern. Petteri Nummelin und Henrik Tömmernes. Nummelin hatte den besten ersten Pass, den ich je bei einem Verteidiger gesehen habe. Bei Tömmernes imponiert die Art und Weise, wie er das Spiel dominiert.
Wenden wir uns den Stürmern zu.
Damien Brunner in der Form der Saison, als er die Skorerwertung der Liga gewonnen hat (Saison 2011/12 – die Red.). Ich erinnere mich noch genau an sein erstes Spiel mit Zug (Saison 2008/09 – die Red.): Er hat mit Patrick Fischer und mir in einer Linie gespielt und uns war sofort klar, dass er ein aussergewöhnlicher Spieler ist. Der Tausch von Thomas Walser gegen Brunner ist der schlimmste Trade, den es je gegeben hat. Als Center nenne ich Martin Plüss. Seine Konstanz über Jahre ist beeindruckend. Für die dritte Position muss ich einfach zwei nennen: einmal Roman Wick. Er war ein unglaublich talentierter Stürmer, für mich einer der besten beim olympischen Turnier 2010 in Vancouver. Und Andres Ambühl. Seine Konstanz ist einfach unglaublich.
Nun fehlt noch der Goalie.
Das ist schwierig. Können Sie mir helfen?
Leonardo Genoni.
Sie haben recht. Wo immer er spielt, gewinnt er Meisterschaften. Das ist, was zählt.
Nach Ihrem Rücktritt arbeiteten Sie erst als Scout und nun seit 2019 als Skill-Coach. Warum nicht als Headcoach?
Ich kenne meine Limiten. Headcoach wäre zu viel für mich.
Zu viel Arbeit?
Nein, nein. Ich müsste mich als Headcoach um viel zu viel kümmern und ich würde den Überblick verlieren. Als Assistent kann ich mich um die Stürmer und das Powerplay kümmern. Ich kann den Stürmern helfen, besser zu werden. Ich sehe mich dabei nicht als Skill-Coach, sondern eher als Assistent des Cheftrainers.
Dann sind Sie ein Freund der Spieler und ein Gegengewicht zum Coach, der auch mal toben muss.
Nicht ein Freund. Ein Partner, der ihnen hilft, besser zu werden. Das ist heute wichtiger denn je. Die Spieler haben Fragen und wollen Antworten.
War es früher einfacher, Cheftrainer zu sein?
Nein, eher anders. Früher haben wir gehorcht und keine Fragen gestellt. Aber am Ende zählten auch damals für den Coach die Resultate. Das ist heute nicht anders.
Aber das Hockey ist anders geworden.
Oh ja, definitiv. Fast eine andere Sportart. Damals war Haken und Halten ganz normal und du hattest die gegnerischen Stöcke überall am Körper.
Die heutige Regelauslegung wäre Ihnen entgegengekommen.
Ja, das ist so.
Sie kamen also eigentlich zu früh.
Nein. Ich habe das Privileg, dass ich beide Welten kennengelernt habe. Die alte NHL und in der Schweiz auch noch das Hockey mit der strengeren Regelauslegung.
War eigentlich die Kameradschaft damals in Montréal besser als bei den heutigen Teams?
Es war anders. Die Kameradschaft in einem Hockeyteam gibt es immer noch. Aber die Spieler unternehmen weniger zusammen. Damals in Montréal gab es nach einem Spiel vielleicht zwei oder drei Taxis. Heute sind es 22. Weil die Spieler mehr als früher ihre eigenen Wege gehen.
Sie kennen die kanadische Kultur und die Schweizer Mentalität …
… da kann ich Ihnen die Differenz sogleich und ganz einfach erklären. Ab dem 10. Lebensjahr musste ich mich in Kanada für jedes Team auf jeder Altersstufe gegen mindestens 80 Konkurrenten durchsetzen. Jahr für Jahr. Dieser Konkurrenzkampf prägt jeden. In der Schweiz wird einem talentierten Spieler der Weg geebnet und er wird auf Händen getragen. Und wissen Sie was? Ich mag Talent nicht.
Wie muss ich das verstehen?
Talent macht mich skeptisch. Weil Talent einfach nicht ausreicht für eine Karriere. Talent ohne Leidenschaft hat keinen Wert. Es braucht immer beides.
Da können wir jetzt boshaft sein und sagen, dass das in Lugano beim Hockey unter Palmen das Problem sein könnte.
Hören Sie auf mit diesem Klischee! Ja, Lugano ist der schönste Ort in Europa und weltweit einer der schönsten Orte, um Hockey zu spielen. Aber das hat keinen Einfluss auf die Leistung. Lugano hat ja mehrere Meisterschaften gewonnen und Tampa zweimal den Stanley Cup geholt. In Tampa gibt es noch viel mehr Palmen als in Lugano.
Aber Lugano müsste besser sein.
Da mögen Sie recht haben. Aber inzwischen hat sich die Liga grundlegend verändert. Jahrelang hat ein Topteam viele Spiele auch dann gewonnen, wenn nicht alle bei der Sache waren. Das ist heute nicht mehr möglich. Die Liga ist so ausgeglichen, dass selbst die beste Mannschaft verliert, wenn nicht alles passt.
Sie haben im letzten Sommer in Lugano den Vertrag bis 2024 verlängert und sind bereits am 8. Oktober nach 8 Spielen entlassen worden. Wir können also so boshaft sein und sagen: Sie haben 8 Spiele gearbeitet und dafür werden Sie für anderthalb Jahre bezahlt.
Ist die Hockey-Welt nicht wunderschön?
Aus dem Magazin «SLAPSHOT»