Hätte Arno Del Curto die wilde erste Phase seiner Karriere in den 1990er Jahren auch überstanden, wenn – wie heute – die TV-Kameras alle Winkel ausgeleuchtet und jeden seiner Temperamentsausbrüche live übertragen hätten? Wir wissen es nicht und wir wollen auch nicht grübeln.
Nun leben wir in einer anderen Zeit. Während des ganzen Spiels steht ein Coach im Schwenkbereich der TV-Bildproduktionsapparate. Und hinterher wird er immer wieder – noch im Feuer der Emotionen – zum Interview vor laufender Kamera genötigt. Arno Del Curto konnte es sich noch leisten, durch den Hinterausgang zu verschwinden.
Arno Del Curto war ein Trendsetter. Er hat unser Hockey verändert. Intuitiv hat er schon in den 1990er Jahren gespürt und erkannt, dass das Hockey des 21. Jahrhunderts intensiv, direkt und schnell sein wird wie nie zuvor. Dass die Spieler flinker, härter, ausdauernder und kompletter sein müssen. Dass es einen Mix aus Kraft, Ausdauer und Emotionen braucht. Und so war er jahrelang mit seinem HCD ruhmreich der Zeit voraus (Meister 2002, 2005, 2007, 2009, 2011 und 2015!).
Inzwischen ist Arno Del Curto 66 Jahre alt geworden (er ist also Rentner). Er hat eine lesenswerte Autobiografie verfasst und hilft ab und an seinem Freund Roger Bader an der Bande der Österreichischen Nationalmannschaft. Ansonsten lebt er im Unterland in Frieden mit seiner Hockey-Vergangenheit. Das Eishockey hat sich in die Richtung entwickelt, die er vorausgesehen hat. Dass inzwischen eine neue Spielergeneration ein wenig anders tickt, hatte er im Abendrot seiner Karriere vielleicht zu wenig bedacht. Und nicht berücksichtigt, dass die Führung einer Hockeymannschaft allein nicht mehr zu bewältigen ist und Assistenten nicht nur da sind, um Pucks nach dem Training einzusammeln.
Die Frage, ob es je einen neuen Arno Del Curto geben wird, vielleicht sogar in Davos oben, ist nach seinem Rücktritt am 27. November 2018 bisher mit «Nein» beantwortet worden. Und nun zeichnet sich ab: Es gibt womöglich doch einen neuen Arno Del Curto in Davos oben: Christian Wohlwend (45).
Bei seinem Amtsantritt im Sommer 2019 ist er nur zwei Jahre älter als Arno Del Curto im ersten HCD-Jahr. Nun hat er bereits seine 4. Saison an der HCD-Bande begonnen. Er steht als Beispiel dafür, wie einer im Amt wachsen kann. Im Rückblick zeigt sich: Seine Karriere hing im letzten Frühjahr im Viertelfinale nach einem 0:3-Rückstand gegen die Lakers an einem dünnen Faden. Ein Temperamentsausbruch (erbost über die Schiedsrichterleistung schmeisst er im Halbfinal gegen Zug Trinkflaschen aufs Eis) und die Härte, mit der die Davoser nun ihr Spiel würzen (und die Lakers zermürben), bringen ihn in die Kritik. Der Chronist hat sogar die Frage aufgeworfen, ob er ein gefährlicher Trainer sei. Doch das Wunder gelingt: Der HCD gewinnt viermal in Serie, zieht in den Halbfinal ein und verliert dort gegen Meister Zug.
Stark vereinfacht können wir sagen: Die 1990er Jahre waren die Zeit der Bandengeneräle, der institutionellen Autorität. Mit einem Spiel, stark geprägt von Taktik, Disziplin, Härte und Einschüchterung. Diese Bandengeneräle sind abgelöst worden durch «Laptop-Boys», die ab der Mitte der 2010er Jahre das immer schnellere und intensivere Spiel mit wissenschaftlicher Akribie und unzähligen Statistik-Varianten zu ergründen versuchen und kollektive Führungsstrukturen entwickeln.
In den 2020er Jahren entwickelt sich ein neuer Trainertyp: mit mehr natürlicher Autorität und Charisma (die alten Werte braucht es halt immer noch), mit dem Verständnis für die Laptop-Wissenschaft und mit der Fähigkeit, die tägliche Arbeit und das Spiel für eine neue Generation mit Spass und Emotionen zu würzen. Zu diesem Trainertyp entwickelt sich Christian Wohlwend. Auch Ambris Luca Cereda (41) und Zugs Dan Tangnes (43) sind Posterboys dieser neuen Generation.
Der HCD wird von einem klugen Präsidenten (Gaudenz Domenig) geführt, der im hin und wieder ungeduldigen Sportbusiness die Kunst der staatsmännischen Gelassenheit und der Ironie bewahrt. Von einem Manager (Marc Gianola), der als langjähriger Captain unter Arno Del Curto die DNA seines Klubs, des Powerhockeys und der hochalpinen Wesensart kennt. Von einem Sportdirektor (Jan Alston), der als weitgereister Hockey-Weltenbürger und in der Schweiz eingebürgerter Kanadier offen ist für alle Hockeykulturen und dem seit seinem Amtsantritt vor etwas mehr als einem Jahr noch keine Transfer-Fehlentscheidung unterlaufen ist. Das ist das perfekte Umfeld, um einen «Trainer-Rohdiamanten» wie Christian Wohlwend zum neuen Arno Del Curto reifen zu lassen.
Nach und nach werden die Hockeymanager im Unterland so auf Christian Wohlwend aufmerksam wie einst auf Arno Del Curto, den anfänglich auch alle für zu verrückt gehalten haben, um bei einem anderen Klub als dem HCD arbeiten zu können.
Im Laufe der Jahre gehörten bei Arno Del Curto die Gerüchte über einen Wechsel ins Unterland (zum SCB? Zum ZSC? Nach Lugano?) zum festen Bestandteil unserer Hockeykultur. Er kam erst nach mehr als 20 Jahren vom Berg herunter, um als Nothelfer die ZSC Lions zu übernehmen. Bei diesem Ritt in den Sonnenuntergang seiner Karriere fiel er vom Pferd: Die Zürcher kamen nicht in die Playoffs und es sollte seine letzte Trainerstation sein.
Christian Wohlwends Vertrag läuft im Frühjahr aus. Spätestens während der ersten Nationalmannschaftspause (7. bis 13. November) dürften erste Gespräche zum Thema Vertragsverlängerung geführt werden. Die kritische Phase ist inzwischen vorbei. Christian Wohlwend kann die von Arno Del Curto begründete, unverwechselbare HCD-Hockeykultur bewahren und weiterentwickeln. Als neuer Arno Del Curto. Aber strukturierter, «digitalisierter» und offener für Führung im Team als sein Vorgänger. Und sehr wohl wird von der Konkurrenz registriert: Christian Wohlwend versteht die neue Spielergeneration und wenn Andres Ambühl mit 39 läuft wie ein Örgeli, so wird er auch mit den Routiniers auskommen. Die Signalwirkung der Vertragsverlängerung von Valentin Nussbaumer kann gar nicht überschätzt werden.
Deshalb die Frage: Ist – anders als bei Arno Del Curto – ein baldiger Wechsel ins Flachland denkbar? Es braucht nicht viele Hosentelefonate, um fündig zu werden. Ja, es gibt Interesse. Aber es wäre ein schwerer Vertrauensbruch, auch nur Andeutungen zu machen, wo es ein Interesse gibt. Der Chronist will sich ja nicht dem völlig aus der Luft gegriffenen und an den Haaren herbeigezogenen Vorwurf aussetzen, er pflege an Trainerstühlen zu sägen. Da seien die Hockeygötter davor! Deshalb sei, um jede unseriöse Gerüchtemacherei zu unterbinden, verraten: Raeto Raffainer und Christian Wohlwend haben trotz gemeinsamer HCD-Geschichte ihr Hockey-Heu inzwischen nicht mehr auf der gleichen Bühne. Ja, wir können sagen: Eine Freundschaft ist zerbrochen.
Darum die Prognose: Christian Wohlwend braucht in Davos noch einige Wintermäntel. Er wird verlängern. Er wird der neue Arno Del Curto.
Richtig ist, dass die Spieler heute anders ticken und ein Trainer auch das berücksichtigen und den Spagat können muss. Aber ohne Stärke und Emotionen geht gestern wie heute nichts. Das ist Eishockey!