Schnapszahl-Alarm im Letzigrund: Bei der FCZ-Attacke auf den Leaderthron gegen Vaduz kommt Davide Chiumiento heute zum 77. Pflichtspiel-Einsatz für die Stadtzürcher. Noch ist das keine Marke, die Rekord-Chronisten in Aufruhr versetzt – doch in der Karriere des 29-jährigen Appenzellers herrschen andere Massstäbe. Obwohl seit seinem Profi-Debüt bereits 11 Jahre vergangen sind, hat es der begnadete Techniker nur für einen seiner bisher sieben Klubs auf mehr Spiele gebracht: Das Luzern-Trikot trug der Italo-Schweizer zwischen 2007 und 2010 ganze 99 Mal.
Verbrieft ist ein Satz aus jener Zeit auf der Allmend, in welchem der 1,73-Meter-Mann das Dilemma trocken zusammenfasst: «Seit ich Juve verlassen habe, wurde ich herumgeschoben, niemand hat mich wirklich gewollt.» Ein Blick auf seine Transferbilanz unterstreicht das Gesagte: Nach zwei Pflichtspieleinsätzen für Juventus wird der junge Chiumiento ab 2004 der Reihe nach leihweise zu Siena, Le Mans und YB abgeschoben – und findet nirgendwo sein Glück.
Auch das Gastspiel in Luzern endet 2010 nach seiner bisher besten Saison mit 11 Toren und 5 Assists nicht in Wonne. Klub und Spieler können sich nicht über eine Vertragsverlängerung einigen. Chiumiento entscheidet sich für das Exil in Kanada und unterschreibt für zwei Jahre beim MLS-Klub Vancouver Whitecaps. Dort wird er von den Medien als «The Swiss Ronaldinho» gefeiert.
2012 kehrt er zurück und schnappt sich beim FCZ als Hommage an seinen Freund Eric Hassli die Rückennummer 29. Doch es läuft nicht von Beginn weg rund. Chiumiento erinnert sich: «Ich versuche die Fehler immer bei mir selbst zu suchen. Am Anfang, als ich von Kanada zurückgekommen bin, war es extrem schwierig für mich. Ich war nicht fit, ich hatte keine Ferien, mein Körper war kaputt. Ich war drei Kilogramm schwerer. Das macht viel aus bei meiner Körpergrösse und hat mich sehr schwerfällig gemacht.»
Mittlerweile hat er die 29 abgegeben und sich im 3-5-2 von Urs Meier als Nummer 10 endgültig zur Schaltzentrale in der Offensive gemausert. Und auch der Tor-Knoten ist endlich geplatzt. Nach 23 Monaten ohne persönlichen Erfolg überlistet Chiumiento beim Derby am ersten Spieltag der laufenden Saison GC-Goalie Davari mit einem Schlenzer und entscheidet die Partie. Seither sind weitere vier Treffer und zwei Assists hinzugekommen.
Ist das einstige Juwel wenige Wochen vor seinem 30. Geburtstag also endlich angekommen – erlebt es beim FCZ doch noch die späte Blüte, die viele gar nicht mehr erwartet haben?
Chiumiento tönt zufrieden, wenn er über seine aktuelle Lage spricht: «Ich fühle mich sehr wohl und das sieht man auch auf dem Platz. Ich kann heute sagen, dass ich das Vertrauen des Trainers spüre und das ist enorm wichtig für mich. Früher, als ich immer wieder ausgeliehen wurde, da ging es selten darum, was für mich das Beste ist.»
Zufrieden ist auch Chiumientos Mutter Manuela – weil sie ihren Sohn endlich wieder in ihrer Nähe hat. Zuhause in Heiden hat sie die Wohnung mit unzähligen Fotos von Davide dekoriert. Auch das Kinderzimmer, dass er vor 14 Jahren verlassen hat, ist noch fast unverändert. Chiumiento erzählt: «Als meine Frau vor zwei Jahren in die Schweiz gekommen ist und das gesehen hat, musste sie schon lachen. Sie hat gefragt: ‹Was macht deine Mutter da?› Die Erklärung ist einfach: Ich bin früh weg von zuhause und da hilft es ihr einfach, mich so präsent zu halten.»
Dort hängt auch ein Foto, auf welchem Chiumiento nach dem Cupsieg gegen Basel im vergangenen Mai endlich seinen ersten Kübel stemmt. Der FCZ-Regisseur erinnert sich: «Das war schon sehr speziell für mich. Es wäre schwierig gewesen, wenn ich nach einer langen Karriere keinen einzigen Titel nach Hause gebracht hätte. Man spielt schliesslich, um zu gewinnen. Ich hoffe schwer, dass jetzt noch weitere dazu kommen – das ist unser klares Ziel. Für mich wäre ein Meistertitel noch höher einzustufen, weil man sich über 36 Spiele konstant behaupten muss.»
Schlecht stehen die Chancen darauf nicht. Nach Basels Ausrutscher gegen St.Gallen kann sich der FCZ heute wieder an die Tabellenspitze schieben. Und rund um den Letzigrund sprechen sie immer unverhohlener vom «besten Chiumiento aller Zeiten» – das mag er auch selbst nicht bestreiten: «Von den Zahlen her stimmt das schon. Dass ich fünf Tore in zehn Spielen gemacht habe, spricht dafür. Die offensiven Freiheiten und die wichtige Rolle, die mir der Trainer gibt, helfen natürlich auch.»
Trotz der vielen Gründe zur Zufriedenheit: Fast immer, wenn man Chiumientos Karriere diskutiert, schwingt auch Enttäuschung mit. Es wird eben mehr erwartet von einem, der bereits als 15-jähriger St.Gallen-Junior das Appenzell verlässt, um bei Juventus Turin die grosse Fussballwelt zu erobern. Als er beim prestigeträchtigen Jugendturnier von Viareggio zum besten Spieler gekürt und als legitimier Nachfolger von Alessandro Del Piero gehandelt wird, scheint es für das Jahrzehntetalent fast keine Grenzen zu geben.
Dagegen fällt die Bilanz im Herbst seiner Karriere dann eben doch ernüchternd aus. Hat Chiumiento einen Teil seines Talents vergeudet? Er spart nicht an Selbstkritik: «Es gab sicher Dinge, die ich falsch gemacht habe. Das muss nicht einmal fussballerisch sein, manchmal war ich mental nicht bereit. Ich muss wohl sagen, dass ich mehr aus meinen Qualitäten hätte herausholen können. Aber ich kann das nicht ändern, muss es auf meine Kappe nehmen und kann niemand anderem die Schuld daran geben. Diese Erfahrungen musste ich eben machen – und sie haben mich zu der Person geformt, die ich heute bin.»
Was würde Chiumiento seinem 15-jährigen Selbst denn gerne sagen, wenn er die Chance dazu hätte? Einiges: «Ich würde vieles anders machen. Ich würde die Trainings abseits des Platzes ernster nehmen, selber viel mehr an meinem Körper arbeiten und in jeder Einheit Vollgas geben. Früher, da wollte ich eigentlich nur ‹bällele› und habe die anderen Dinge vergessen, die wichtig sind.»
Einen dunklen Fleck in seiner Fussball-Biographie haben ihm viele Schweizer bis heute nicht verziehen. 2004 bietet Köbi Kuhn den 19-jährigen Chiumiento für die Schweizer Nati auf – und kassiert einen Korb. Obwohl der schweiz-italienische Doppelbürger bis zur U21 für die Schweiz antritt, träumt er von einer internationalen Karriere à la Roberto Di Matteo und will lieber auf ein A-Aufgebot der «Squadra Azzurra» warten. Es kommt nie.
Mit dieser Entscheidung verspielt er die Chance, sein Können auch regelmässig auf Länderspiel-Ebene zu zeigen. Nur einmal streift er dann doch noch das Trikot der Schweizer Nati über: 2010 gibt er beim 1:3 gegen Uruguay zusammen mit Xherdan Shaqiri für eine Halbzeit sein Debüt, wird aber anschliessend nie wieder nominiert.
Plagt ihn das heute noch? Chiumiento: «Ich bin in diesem Land geboren und wollte nie den Respekt vermissen lassen. Leider wurde mir das so ausgelegt. Ich war vielleicht naiv und habe einen Herzensentscheid getroffen, ohne mir viel dabei zu denken. Plötzlich waren alle ‹hässig›, das war sehr schwierig für mich.»
Ganz abgeschlossen ist das Nati-Thema noch nicht. Obwohl Chiumiento trotz seiner guten Leistungen beim FCZ kein Aufgebot für die Spiele gegen Slowenien und San Marino erhalten hat, gibt er die Hoffnung nicht auf: «Ich habe noch nie mit Vladimir Petkovic gesprochen. Er hat sehr viele Spieler zur Auswahl, aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir keine Chancen ausrechne. Ich habe Qualitäten, die ich auch in die Nati einbringen könnte.»
Das Ziel im Hinterkopf ist klar: «Wenn ich je wieder ein Aufgebot bekomme, dann würde ich mich sehr freuen. Eine EM gegen Ende meiner Karriere, das wäre eine grosse Sache. Aber ich mache mir da nicht mehr so viele Gedanken wie früher. Wenn es klappt, dann nur über meine Leistungen auf dem Platz.»