Vladimir Petkovic muss zurückbuchstabieren. Zweieinhalb Monate vor dem EM-Start steckt die ambitionierte Schweizer Auswahl in Schwierigkeiten. Alles nur auf Formschwächen einzelner Nationalspieler zu reduzieren, ist ein zu simpler Ansatz. Die Entwicklung in die falsche Richtung hält bereits länger an. Die Zitate und Ziele von Petkovic kontrastieren immer mehr zur Realität auf dem Rasen. Der «Visionär» (NZZ) gerät unter (Zeit-)Druck.
Luzern, September 2014, wenige Tage vor dem Auftakt zur EM-Ausscheidung. Vladimir Petkovic äussert sich erstmals als neuer Nationalcoach im Detail und bemerkenswert dezidiert über seine Mannschaft.
Im zweiten Frühling seit der Amtsübernahme Petkovics ist von der zunächst forschen und couragierten Idee nicht mehr viel erkennbar. Statt kooperierende Dreiecke sind immer öfter isolierte Figuren auszumachen. Der generell hohe Ballbesitzanteil – während der Qualifikation erspielten sich die Schweiz im Schnitt einen Prozentsatz von gegen 64 – trügt, die Anzahl guter Chancen ist markant rückläufig.
Bereits im letzten Spiel der EM-Ausscheidungskampagne in Tallinn (1:0) tat sich die SFV-Auswahl gegen Estland, die Nummer 90 des FIFA-Rankings, enorm schwer. In Wien schönte die Tor-Doublette von Haris Seferovic den matten Eindruck, ein paar Tage zuvor waren die Schweizer in der Slowakei (0:3 nach 55 Minuten) phasenweise vorgeführt worden. In den letzten 180 Testminuten akzentuierte sich das Problem der stagnierenden Offensivabteilung. Spürbar war vor allem eine negative Energie, und hoch war primär die eigene Fehlerquote.
19. November 2015, bei einem Gespräch in kleiner Tischrunde in Zürich zieht Vladimir Petkovic nach 17 Monaten und 15 Spielen unter seiner Leitung eine Zwischenbilanz.
Bewegt haben sich die Schweizer in der Tat, aber zu ihrem Nachteil in die falsche Richtung. Am 1. Juli vor zwei Jahren verwickelten sie den späteren WM-Finalisten Argentinien in der ersten K.o.-Runde in einen packenden Abnützungskampf (0:1 n.V.).
Von jener nahezu perfekten Organisation und ansteckenden Passion ist kaum mehr etwas übrig. Taktisch sind sie keinen Schritt weiter, im Gegenteil: In Zürich reanimierte Petkovic in der allgemeinen (Personal-)Not das vormals bewährte 4-2-3-1-System – angeblich, um das Team im resultatorientierten Bedarfsfall schneller umgruppieren zu können.
Jede Vorgabe ist aber nur so gut wie die Protagonisten, die sie umzusetzen haben. Während das englische Nationalteam nach dem WM-Vorrunden-Out konsequent und erfolgreich den Umbruch vorantrieb, büssten die Schweizer Hoffnungsträger an Terrain ein. Seferovic (24) beispielsweise tritt mit Frankfurt an Ort und vorletzter Bundesliga-Stelle, Harry Kane hingegen, im März 2015 erst Debütant Englands, stürmte mit Tottenham als 21-facher Premier-League-Skorer auf Platz 2.
Die Nervosität und Anspannung sind hör- und spürbar. Der Schweizer Selektionär hat einen Grundsatzentscheid gefällt. Gökhan Inlers Name fehlt im Aufgebot vom 18. März. Petkovic definiert den Team-Lead neu.
Während knapp neun Jahren gehörte er zum Stamm und stieg unter dem Welt-Trainer Ottmar Hitzfeld zum unangefochtenen Leader auf: Gökhan Inler. Der harte Mittelfeldarbeiter war zwar nie ein Rhetoriker, aber intern schenkten die Mitspieler dem Wort Inlers das nötige Gewicht.
Petkovic entzog seinem «Mediator» (Petkovic) zweieinhalb Monate vor der Endrunde das Vertrauen, weil der 31-Jährige bei der gegenwärtig besten englischen Klub-Mannschaft den Stammplatz verloren hat. Der betroffene Leicester-Professional reagierte konsterniert, einige seiner SFV-Copains brachten für den Entscheid des Nationaltrainers «off the record» kein Verständnis auf.
Der Tenor bei der Pro-Inler-Fraktion ist klar: Auf den Fundus von 89 Länderspielen sollte die Schweiz an der EM nicht aus freien Stücken verzichten, ein charakterlich einwandfreier Back-up mit über 41'000 Profi-Minuten in den Beinen gehört nach wie vor zu den Top 23 der Schweiz. Wenn der Trainer die Balance wirklich im Auge hat, kommt er spätestens im Mai auf seinen Entschluss zurück.
76 Stunden nach dem enttäuschenden 0:1 gegen Irlands B-Auswahl unterliegen die verunsicherten Schweizer im drittletzten EM-Test Bosnien-Herzegowina diskussionslos 0:2. Petkovic wirkt ratlos. Seine Statements sind ehrlich, beschönigen nichts. Der Trainer sorgt sich und klammert sich an wenig.
Die Bemühungen, ein freundlicheres Ergebnis zu erzielen und ein besseres Bild abzugeben, waren den Schweizern zumindest im Letzigrund nicht abzusprechen. Die Formbaisse betrifft aber inzwischen eher das gesamte Nationalteam – und gegen den Abstieg spielen von der möglichen EM-Startformation exakt drei: Fabian Schär, Timm Klose und Haris Seferovic.
Und ja: Die Momentaufnahme ist tatsächlich beunruhigend, weil selbst Direktbeteiligte eingesehen haben, dass die Lethargie sich tief ins Teamgefüge gefressen hat und die organisatorischen Mängel ein ungesundes Ausmass erreicht haben.
Petkovic liegt nicht falsch, wenn er feststellt, dass sein Game-Plan «von hinten bis vorne» nicht passt. Wenn einer wie Renato Steffen im vierten Länderspiel seiner Laufbahn das statische Spiel einer Verbandsauswahl beleben muss, die innerhalb einer Dekade fünf Endrunden erreicht hat und vom Vorstoss in den EM-Viertelfinal träumt, dann sind Kurskorrekturen angebracht. (pre/sda)