«Es sollte ja mal so etwas wie ein Urlaub sein. Gerne mit Nachbuchoption, wenn möglich.» So beschreibt der «Berliner Kurier» heute die Erwartungen rund um Bundesliga-Neuling Union Berlin vor der Saison. Die «Eisernen», die vor einem Jahr in der Relegation gegen den VfB Stuttgart völlig überraschend den ersten Bundesliga-Aufstieg der Klub-Geschichte bewerkstelligten, galten fast überall als Abstiegskandidat Nummer 1.
Doch bereits gestern sind die Ferien vorzeitig um ein Jahr verlängert worden. Nach dem 1:0-Sieg gegen Paderborn darf Union bereits zwei Runden vor Schluss den vorzeitigen Klassenerhalt feiern. Eine Sensation, auch wenn während der ganzen Saison nie richtige Abstiegsgefahr aufkam. Lediglich am ersten Spieltag hatten die Köpenicker die Rote Laterne tragen müssen, am siebten waren sie noch mal auf den Relegationsrang gerutscht. Ansonsten stand das Team von Trainer Urs Fischer immer über dem Strich und ist nun vorzeitig gerettet.
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— 1. FC Union Berlin (@fcunion) June 16, 2020
Gefeiert wird wegen des Corona-Schutzkonzepts an der Alten Försterei aber nicht gross. Im Stadion werden erst die vorgedruckten T-Shirts verteilt: «Schlussendlich Klassenerhalt», steht darauf. Es ist eine Hommage an den Trainer, denn das Wort «Schlussendlich» fehlt in fast keinem Satz des 54-jährigen Zürchers. Sicher kein Zufall, dass er es in der ersten Analyse nach dem Spiel für einmal nicht braucht: «Wir haben gelitten und uns zum Schluss belohnt», sagt er und betont: «Wenn du es geschafft hast, wenn du über die Ziellinie gegangen bist, ist es ein tolles Gefühl.»
Ein paar Dutzend Fans warten «schlussendlich» bei der Stadionausfahrt an der Alten Försterei auf ihre Helden. Gemeinsam werden ein paar Fan-Lieder gesungen, dem Trainer wird mit «Fischer, Fischer»-Rufen gehuldigt. Statt eines Biers gönnt er sich ein Gläschen Rotwein. «Singt weiter, singt weiter», sagt er nur und verbeugt sich vor seinen Anhängern. Der Rummel um seine Person ist ihm sichtlich unangenehm.
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— Stephanie Baczyk (@StephanieBaczyk) June 16, 2020
Dennoch wissen sie in Berlin ganz genau, was sie dem bescheidenen Schweizer Trainer zu verdanken haben. Der Klassenerhalt ist zu einem grossen Teil sein Werk. Im Sommer 2018 übernahm er Union und führte den Arbeiterverein sogleich in die Bundesliga. Zusammen mit Manager Oliver Ruhnert verstärkte Fischer die Mannschaft mit den erfahrenen Anthony Ujah, Christian Gentner und Neven Subotic punktuell, ohne das Gefüge der Aufstiegsmannschaft zu zerstören.
Das Erfolgsrezept blieb dann auch in der Bundesliga das gleiche: Harte seriöse Arbeit statt grosse Sprüche. Fischer betonte in seiner ruhigen, unaufgeregten Art bereits zu Beginn der Saison, dass ein Ligaverbleib als Sensation interpretiert werden müsste und nahm so den Druck von seiner Mannschaft. «Als Aufsteiger bist du das erste Mal in der ersten Liga, hast null Erfahrung, musst dich zuerst daran gewöhnen …», so sein Credo.
Union gewöhnte sich schnell an die neue Gangart, auch weil Fischer nicht von seinem Konzept abwich. Er lässt keinen Zauber-Fussball spielen, im Gegenteil. Kratzen, beissen, Tore erzwingen – unter dem Zürcher wird Fussball gearbeitet. Dank viel Kampfkraft und Laufbereitschaft sind die Berliner für jeden Gegner extrem unangenehm zu spielen.
Es gehört zum Erfolgsrezept, dass Union von allen Teams in der Bundesliga die meisten Kilometer abspult, die meisten Fouls begeht, in die meisten Kopfballduelle geht und am drittmeisten Zweikämpfe gewinnt. Hinzu kommt eine aussergewöhnliche Stärke bei Standards. Die Köpenicker haben 19 ihrer 38 Tore nach Eckbällen, Freistössen und Elfmetern erzielt. Auch das ein Liga-Höchstwert.
Dennoch ist Unions Fussball alles andere als eindimensional. In der Schweiz oft etwas unterschätzt hat sich Fischer in Berlin einen Namen als Taktikfuchs und akribischer Arbeiter gemacht, der häufig bis spätabends in seinem Büro im Stadion sitzt und potenzielle Spielzüge seiner Mannschaft und des Gegners studiert. Den Spielstil passt Fischer dann stets den Gegebenheiten an. Egal ob mit verschiedenen Systemen, Spieler-Typen oder indem er durch eine Spiegelung der gegnerischen Aufstellung zahlreiche Mann-gegen-Mann-Duelle forciert.
In den letzten beiden Spielen hat Fischer mit Union noch ein grosses Ziel vor Augen. Zwei Zähler fehlen noch zur anvisierten 40-Punkte-Marke. Ausserdem haben die «Eisernen» noch immer die Chance, den derzeit punktgleichen Stadtrivalen Hertha hinter sich lassen zu können. Dem selbsternannten «Big City Club» nach dem 0:4 im Derby doch noch ein Schnippchen schlagen zu können, wäre für Fischer und Union der perfekte Abschluss einer sensationellen Saison.
Ich freue mich immer wen ein „Kleiner“ so ein Erfolg hat.