Christian Bartlau ist Fussballfan. Aber er hat keine Lust mehr auf Fussball. Seit dem vergangenen Sommer verfolgt der 34-Jährige kein Profispiel mehr. Keine Champions League, keine Bundesliga, nichts. Frankreich gegen Kroatien, das WM-Finale in Russland 2018, war das allerletzte Spiel, das Christian gesehen hat.
Danach war Schluss, Christian machte den kalten Entzug vom Fussball – so wie es andere Leute machen, wenn sie mit dem Rauchen aufhören.
Leicht war das nicht: «Ey, ich bin halt Fussballfan. Es ist extrem schwer, komplett darauf zu verzichten und das alles aufzugeben», erzählt Christian im Gespräch mit watson.
Christian hat den Grossteil seines bisherigen Lebens mit Fussball verbracht. In den Neunzigern verliebte er sich als Kind in Hansa Rostock, litt viele Jahre mit dem Club mit: «Die Wochenenden waren danach ausgerichtet, meine Launen hingen von Spielergebnissen meines Lieblingsclubs ab.»
Der Fussball habe stets einschneidende Erlebnisse in seinem Leben markiert: «In welchem Jahr habe ich Abi gemacht? Weiss ich nicht genau. Aber ich weiss, dass wir am Tag nach der Abifeier verkatert Deutschland gegen Lettland geschaut haben. EM 2004, fürchterliches Spiel.»
Sehnsucht nach Fussball verspüre er aktuell keine, auch wenn er manchmal in die Zeitung schiele, um zu schauen, wie es gerade bei Hansa Rostock läuft.
Wie kann jemand, der bisher fast sein ganzes Leben dem Fussball widmete, von jetzt auf gleich alles hinschmeissen?
Sein Fussball-Boykott ist das Ergebnis einer jahrelangen Entfremdung: «Mir ist aufgefallen, dass ich zunehmend weniger Bock auf Profifussball habe, weil es mich nur noch anödet. Hunderte Dinge haben mich am Fussball genervt. Zum Beispiel die Lizenzerteilung an RB Leipzig oder die WM-Vergabe nach Katar», sagt er.
Über seine Abkehr vom Profifussball hat Christian das Buch «Ballverlust» geschrieben, er nennt es «Besinnungsaufsatz». Es ist eine 212 Seiten lange Abrechnung mit dem «marktkonformen Fussball». Damit meint Christian den Fussball, bei dem es nur noch darum geht, aus dem Spiel so viel Geld zu pressen wie möglich. Den Fussball, der zu einer Ware in der Unterhaltungsindustrie verkommen ist, und der die reichen, mächtigen Clubs uneinholbar bevorteilt.
Christian zählt in «Ballverlust» zunächst die «Kennzahlen des Wahnsinns» auf, die 222 Millionen Euro für Neymar, die WM in Katar mit 48 Teilnehmern, die siebte Bayern-Meisterschaft in Folge, Ronaldos Steuertricksereien; Oliver Bierhoff nennt er den Montgomery Burns des deutschen Fussballs.
Wie es dazu kommen konnte, dass sich unser liebster Sport in diese Richtung entwickelte, beschreibt er dann anhand der Kapitel «Wie das Geld ins Spiel kam» und «Fussball als Geschäft», darin umreisst er die Geschichte der Kommerzialisierung, die kaum aufzuhalten sei.
«Mich nervt fundamental, dass Leute die fussballfern sind, den Sport missbrauchen. Zum Beispiel in Staaten wie Katar, Aserbaidschan, Saudi-Arabien. Fussball wird zum Politikwerkzeug. Da kann ich nicht unbeschwert die Faszination des Spiels geniessen, wenn ich das im Hinterkopf habe», verdeutlicht er.
Die Weltmeisterschaft der Frauen im Sommer habe er nicht zuletzt aus diesen Gründen nicht geschaut: «Ich will mit nichts etwas zu tun haben, womit die FIFA zu tun hat», sagt er. «Die FIFA ist ja im Prinzip eine Organisation zum Umverteilen von Geldern in die Taschen von Kriminellen.»
Dass Christians Boykott einem Nikotin-Entzug ähnelt, ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt: Denn bei den meisten Fans ist es doch so, dass sie nicht aufhören können – obwohl sie genau wissen, wie schädlich das eigentlich alles ist.
Spätestens seit «Football Leaks», der Enthüllungsplattform, auf der Whistleblower schmutzige Fussballdetails ans Licht brachten, müsste auch der Allerletzte begriffen haben, was im Weltfussball alles im Argen liegt. Dennoch tut das der Begeisterung keinen Abbruch.
Warum? «Tun wir nichts, weil wir nichts wissen, oder wissen wir alles und tun nichts?», stellt Bartlau in den Raum und sagt dann: «Ich tendiere zu letzterem. Jeder Fan weiss, wie viel Kohle die Spieler verdienen, jeder weiss halbwegs, was bei der FIFA abläuft – und wir nehmen das trotzdem hin. Fussball ist ein Bedürfnis. Dieses Bedürfnis sticht alles aus. Ich glaube, gesellschaftlich fehlt uns eine Utopie, wie der Fussball anders aussehen könnte.»
«Die Doppelrolle der Fans» heisst ein Kapitel, das Christian den Fussballanhängern widmet. Darin beschreibt er, dass der Fan im modernen Fussball in einem Ausbeutungsverhältnis stecke. «Der Fan ist Teil des Produkts. Die DFL bewirbt die Bundesliga mit ihnen. Die aktiven Fans tragen einerseits dazu bei, dass der Fussball in der Bundesliga mit seinen vollen Stadien noch ein relativ cooler Ort ist. Andererseits tragen sie damit aber auch dazu bei, dass die DFL die Liga noch besser verkaufen kann. Das ist das Dilemma, in dem sie stecken. Sie stützen den marktkonformen Fussball dadurch.»
Christian wolle niemanden davon abhalten, Transparente gegen den modernen Fussball zu basteln, – aber die Fans müssten sich bewusst sein, dass «Banner gegen den modernen Fussball, zum Beispiel in der Allianz Arena, immer noch Ja zum modernen Fussball sagen.»
Muss man als Fan gar Angst haben, dass man nach der Lektüre die Lust am Fussball verliert? «Ich will eine gewisse Ausweglosigkeit aufzeigen», sagt Christian. «Viele Fans, die kritisch sind, und die gibt es ja, protestieren und rufen wichtige Initiativen ins Leben. Aber viele Fans glauben immer noch, dass es den richtigen Fussball im falschen gibt. Solange sich der Fussball aber einer Profitlogik unterwirft, so lange wird es genauso weiterlaufen.»
Selbst als sympathisch empfundene kleinere Clubs wie der SC Freiburg oder Union Berlin würden verklärt. Denn auch die müssen sich den Mechanismen des Kommerzes beugen, indem sie auf ihrer Trikotbrust werben oder den Stadionnamen verkaufen, um im Konzert der Grossen überhaupt mithalten zu können.
Es gehe in «Ballverlust» darum, aufzuzeigen, dass sich nichts ändern wird, so lange die aktuellen Rahmenbedingungen bestehen. Aber was müsste sich ändern, dass sich Christian wieder für Fussball interessiert? An Reformen glaubt er überhaupt nicht: «So wie es im Moment läuft: Nein. Absolut Nein. Wir sehen ja alle, in welche Richtung es geht.» Damit meint er unter anderem den Plan einer autarken, exklusiven europäischen Superliga, eine sportliche Parallelgesellschaft, in der sich nur noch die Reichsten und Besten messen.
Im Schlusskapitel «Was tun?» liefert Christian, so sehr er auch Pessimist sein mag, ein paar radikale Lösungsansätze, was passieren müsste:
In der Widmung seines Buches schreibt er: «Für Julie, die die einzig richtige Reaktion für Fussball hat: Kopfschütteln.» Julie ist seine Freundin. Ob er sich auch manchmal wünscht, dass er sich nie so sehr in den Fussball verliebt hätte und einfach nur mit Kopfschütteln auf ihn reagieren könnte?
«Gemeine Frage», sagt er. «Ich glaube, es ist schon cool so, wie es ist. Man sagt ja nicht umsonst: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – Ich will es nicht missen. Wie geil ist es bitte, sich in Fussball zu verlieben?»
Dennoch ist Christian nun stolz auf sich, dass er eine rationale Entscheidung gegen den Fussball getroffen hat. So ganz verzichten kann er auf seine Lieblingssportart dann aber doch nicht. Sein Methadon ist die 8. Liga Österreichs, in der er selbst spielt, in einer «besseren Thekenmannschaft». Mit Fussball nichts zu tun zu haben, sei eigentlich ganz einfach – «wenn es nicht so schwer wäre…»
Was der gute Mann macht ist nur konsequent. Wünsche mir, dass dies eine grössere Menge an Fussballfans machet, dann würde die Blase schneller platzen als es so Manchem lieb ist.