Ein, zwei Tage nach dem letzten Spiel des Jahres fiel Torsten Eisenbeiser auf, dass er etwas vergessen hatte. Union Berlin hatte schon wieder verloren, 1:2 gegen Burghausen im eigenen Stadion, die Berliner gingen als Tabellenvorletzter der 2. Bundesliga in die Winterpause. Gleich nach Abpfiff hatten sich die Union-Fans auf den Heimweg gemacht. Es wurde wenig geredet, die meisten Leute liessen die Köpfe hängen, auch Eisenbeiser, so erzählt er das.
Erst später bemerkte er, dass er sich doch gerne von seinen Freunden auf der Tribüne in die Weihnachtszeit verabschiedet hätte. Dass es doch nett gewesen wäre, einander ein frohes Fest zu wünschen, besinnliche Feiertage, einen guten Rutsch.
Eisenbeiser rief seine Kumpels vom Fanklub Alt-Unioner an. Ja, sagten die: Man müsse sich noch einmal treffen, Glühwein trinken, ein bisschen was essen, vielleicht ein paar Weihnachtslieder singen. Nur wo? Zum Glück kannte Eisenbeiser den Platzwart der Alten Försterei, dem Stadion von Union, und der liess ihn netterweise wissen, dass sich eines der Stadiontore nicht richtig schliessen lasse.
So begab es sich, dass im Jahr 2003 kurz vor Heiligabend 89 Union-Fans im Stadion zusammenkamen und eine Tradition begründeten, die mittlerweile erstaunliche Ausmasse angenommen hat: Gestern kamen bei der zwölften Ausgabe des Berliner Weihnachtssingens 27'500 Menschen, mehr als bei den Zweitliga-Spielen im Stadion sind. Die Veranstaltung zeigt, dass Fussballfans nicht nur dann gerne singen, wenn auf dem Rasen 22 Spieler gegeneinander antreten, sondern auch, wenn eine Bühne aufgebaut ist und ein Kinderchor Tonlage und Tempo vorgibt. Und es beweist den Drang der Menschen, in der Weihnachtszeit zusammenzukommen.
Eisenbeiser und die Alt-Unioner sind noch immer für die Organisation zuständig, wie beim ersten Mal, als die Sängerschaft das Stadion «ein bisschen illegal geentert» hatte, wie Eisenbeiser sagt. Schon im zweiten Jahr war die Veranstaltung mit dem Verein abgesprochen und bei den Behörden angemeldet. Mittlerweile ist das Weihnachtssingen Teil der Vereinskultur und passt zum Image von Union.
Der Zweitligist sieht sich als Klub der Menschen, verwurzelt im Stadtteil Köpenick, noch nicht in eine Parallelwelt entschwebt, in der junge Millionäre ohne Führerschein teure Sportwagen steuern. Als die Alte Försterei zwischen 2008 und 2013 umgebaut wurde, halfen Tausende Fans von ihnen freiwillig. «Der Verein ist unsere Familie», sagt Eisenbeiser. Und das Weihnachtssingen ist ein familiäres Ritual, ein Ausdruck der Gemeinschaft zwischen Fans und Verein. Es ist mehr eine Unions- als eine Weihnachtsveranstaltung, das sagt auch Eisenbeiser, obwohl natürlich auch Anhänger anderer Klubs kommen: «Union-Fans feiern sich gerne selbst. Wir feiern auch, wenn wir nicht gewinnen.»
Der Ablauf der Zeremonie ist klar geregelt: Um 19 Uhr gehen die Lichter im Stadion aus, was bleibt, ist ein Kerzenmeer. Für Eisenbeiser ist das ein erhabener Moment, auch wenn er das anders formuliert: «Das ist Entenpelle ohne Ende, da bekommt man Pipi in den Augen. Das ist schon genial.» Und dann wird gesungen, 90 Minuten lang. Der örtliche Pfarrer liest die Weihnachtsgeschichte und spricht ein Gebet, wobei das Singen keine ausdrücklich religiöse Veranstaltung ist. Aber Weihnachten ohne Weihnachtsgeschichte? Das geht nicht.
An Weihnachten erscheinen die Probleme des Alltags manchmal weit weg, so ist es auch beim Berliner Singen. Bei Union ist viel passiert in dieser Saison: Publikumsheld Torsten Mattuschka wurde vergrault, Trainer Norbert Düwel zeigte dem Publikum nach einer Niederlage gegen 1860 München den Mittelfinger. Aber wenn um 19 Uhr das Licht ausgeht, spielt das alles keine Rolle: «Dann ist die sportliche Situation egal», sagt Organisator Eisenbeiser. An Weihnachten sehen selbst Fussballfans ein, dass es Wichtigeres gibt als Fussball.
Was natürlich nicht heisst, dass der Fussball keine zentrale Rolle spielen würde beim Weihnachtssingen: Es geht in jedem Jahr los mit der Vereinshymne, und das Lied «In der Weihnachtsbäckerei» wird auch in einer Union-Version gesungen. «In der Alten Försterei» heisst es da. Die Mischung aus Gottesdienst und Stadion-Event zieht ein bunt gemischtes Publikum an. Es kommen viele Menschen, die eher nicht den Anschein machen, als würden sie in ihrer Freizeit Plätzchen backen oder auf der Geige das Weihnachtsoratorium üben: «Wenn Sie sehen, dass da echte Mannskerle stehen und mit rauer Stimme ‹Stille Nacht, heilige Nacht› singen, dann ist das kaum zu glauben», sagt Eisenbeiser.
Kaum zu glauben ist für ihn auch der Andrang auf das Weihnachtssingen. Im vergangenen Jahr waren so viele Menschen da, dass nicht alle reinkamen. Damit das nicht mehr passiert, gibt es in diesem Jahr ein begrenztes Kontingent an Karten. Wer nicht Mitglied ist bei Union, zahlt Eintritt. Das Geld geht an die Jugendabteilung des Vereins. Dass sich Torsten Eisenbeiser und die Alt-Unioner einmal mit einer solchen Organisationsfrage beschäftigen würden, hatten sie nicht vermutet, als sie 2003 heimlich ins Stadion eindrangen, um sich in die Weihnachtstage zu verabschieden.