Der Nachmittag in Doha ist angebrochen an diesem Sonntag, als Brasiliens Nationaltrainer Tite die Bühne betritt. Sieben Tage dieser WM sind vorbei. 21 weitere folgen noch, dann ist der neue Weltmeister gekürt. Wer das sein wird? Darüber gibt es in Brasilien keine zwei Meinungen, es ist, natürlich, die Seleçao.
Doch gerade zählt Brasilien nicht bis zum WM-Final, sondern auch die Tage seit dem letzten Donnerstag - seit der Verletzung von Neymar. Es gibt kein anderes Thema. Ob Trainer Tite oder Mitspieler Marquinhos, fast alle Fragen, die sie beantworten müssen, drehen sich um Neymar.
Tite erzählt also, wie er seinem Superstar Mut zugesprochen hat, fünf Uhr morgens war es da bereits, nach dem Spiel gegen Serbien. Oder er erzählt, wie stolz er auf Neymar ist, dass dieser in den schwierigen Momenten nicht nur an sich selbst denkt, sondern ans Team, «darum geht es im Sport, man muss das Gesamtbild in Betracht ziehen». Ganz ohne Hoffnung lässt Tite Brasilien indes nicht zurück, «auch wenn ich kein Arzt bin, ich bin überzeugt, dass Neymar an diesem Turnier noch spielen wird.»
Auch Neymar selbst trägt dazu bei. Übers Wochenende hat er ein Foto des geschwollenen Fusses veröffentlicht. Worauf die gut 214 Millionen Menschen in Brasilien, in diesem Moment allesamt auch Ärztinnen und Ärzte, euphorisch folgerten: «Die Schwellung ist zurückgegangen!»
Eine Frage ist ob aller Neymar-Sorgen etwas in den Hintergrund gerückt: Wer sind die anderen Wunderkinder Brasiliens, die normalerweise mit, und nun halt eben ohne Neymar stürmen?
An erster Stelle steht Richarlison. Sein Name ist seit den beiden Toren gegen Serbien auf der Weltbühne angekommen. Der 25-Jährige spielte bis im Sommer bei Everton, wechselte dann für 60 Millionen Franken zu Tottenham, steht dort aber bis anhin im Schatten von Harry Kane, auch wegen einer Wadenverletzung.
Richarlisons Bilanz im Dress Brasiliens ist indes beeindruckend. 19 Tore in 39 Spielen. Noch imposanter: In den sieben Länderspielen des Jahres 2022 traf er neunmal.
Sein Tempo auf der linken Seite ist atemberaubend. Vielleicht ist er derzeit der schnellste Flügel auf diesem Planeten überhaupt. Seit er 18 ist, spielt Vinicius Junior für Real Madrid. Es dauert, bis er im europäischen Fussball ankommt. Auch, weil er erst erkennen muss, dass es manchmal effizientere Wege gibt als hier noch ein Dribbling und da noch ein Kunststück.
In der letzten Saison gelingt ihm der Durchbruch. Das grösste Ausrufezeichen setzt er im vergangenen Mai. Sein Tor ist es, das Real den Titel im Champions-League-Final gegen Liverpool sichert.
Im Nationalteam Brasiliens muss er sich lange gedulden. Auch, weil er auf derselben Position zu Hause ist wie Neymar. Jetzt aber hat er seinen Platz gefunden. Gut möglich, dass er sogar noch aufblüht, wenn er aus Neymars Schatten treten darf.
Sein Weg an die Spitze dauert ein wenig länger als gewöhnlich für die Stars von Brasilien. Mit 19 kommt er nach Europa, Guimarães und Sporting Lissabon sind seine ersten Klubs in Portugal. Weiter geht es nach Frankreich zu Rennes. Im Herbst 2020 nach England zu Leeds. Dort weckt er das Interesse von Barcelona, in diesem Sommer kommt der Transfer zu Stande.
In der Seleçao gibt er erst vor gut einem Jahr sein Debüt. Nun spielt er am rechten Flügel, auch er ist gewiss nicht der langsamste. «Und der Ball!», ruft Brasiliens Trainer Tite am Sonntag durch den Saal, «der klebt richtig an seinen Füssen, es ist eine Freude!»
Und wenn die drei Stürmer einmal einen schlechten Tag haben? Dann gibt es bei Brasilien auch noch Rodrygo (Real Madrid), Martinelli (Arsenal) oder Antony (Manchester United). Spieler, die in jedem anderen Nationalteam der Welt einen Stammplatz hätten. (aargauerzeitung.ch)