Es gab Zeiten, da lag der letzte Sieg der Schweiz gegen eine grosse Fussball-Nation weit zurück. Das ist jetzt anders. 1:0 gegen Portugal, 2:1 gegen Spanien, das sind die jüngsten Beispiele im 2022. Ja, es ist kompliziert, die Nati zu besiegen. Auch Italien kann ein Lied davon singen, zweimal gelang es nicht, darum verfolgen die «Azzurri» die WM vom Sofa aus. Und schliesslich die EM: Auch gegen Frankreich und Spanien stand es nach Verlängerung jeweils unentschieden.
Je grösser die Bühne, desto besser wird Murat Yakin. Er seziert die Gegner so genau wie kaum ein anderer Trainer. Die grossen Spiele bereiten ihm die grösste Lust. Das war schon früher mit dem FCB in der Champions League so. Das ist auch jetzt mit der Nati nicht anders. Unter ihm hat die Schweiz an defensiver Stabilität zugelegt – egal gegen wen. Und er hat es noch meist geschafft, mit einem taktischen Kniff alle zu überraschen. Warum nicht auch Brasilien?
Die Erinnerungen an seine grossartige EM sind noch längst nicht verblasst. Das den Feldspielern die Gewissheit: Im Notfall ist einer da, der uns rettet. Sommer wird es auch gegen Brasilien wieder tun. Notfalls kann er auch einen Elfmeter halten. Die letzten fünf Penalty-Schützen während eines Spiels scheiterten alle an seiner Aura und Klasse. Man darf durchaus fragen: Ist Sommer sogar der beste Torhüter der Welt?
Es ist nichts weniger als ein Drama. Neymar ist schon wieder verletzt. Der Superstar und die WM – es will einfach nicht passen. Mag sein, dass die «Seleçao» ganz viele andere tolle Spieler hat, die ihn ersetzen können. Trotzdem ist das Team abgelenkt. Der Fokus des gesamten Landes liegt auf Neymar. Die Frage, ob und wann er zurückkehrt, dominiert alles. Vor lauter Neymar-Pflege vergessen die Brasilianer, dass sie eine sportliche Aufgabe zu absolvieren haben.
2002 wurde Brasilien letztmals Weltmeister. Seither gab es lauter Enttäuschungen, vor allem im Halbfinal der Heim-WM 2014 beim desaströsen 1:7 gegen Deutschland. Wenn die Seleção sich alle vier Jahre mit dem Rest der Welt (vor allem den Europäern) misst, wird von den Ballkünstlern wie den mehr als 200 Millionen Einwohnern nichts anderes erwartet als die Bestätigung, die beste Mannschaft der Welt zu sein. Auch Nationaltrainer Tite sagt: «Wir sind hierhergekommen, um Weltmeister zu werden.» Es lähmt, wenn man zum Titel verdammt und kein Sieg etwas Wert ist, ausser jener im Final.
Und die kleine Schweiz, die vom Gegner natürlich unterschätzt wird? Sie hat nichts zu verlieren, soll geniessen – darf, muss aber nicht gewinnen.
Wir haben die Brasilianer schon geärgert, allzu gerne erinnern wir uns an den WM-Auftakt in Russland: Steven Zuber stösst Gegenspieler Miranda bei einem Shaqiri-Corner in den Rücken und gleicht per Kopf aus. Der Treffer zählt, 1:1 steht es in Rostow am Don am Schluss, und das ist gar nicht mal unverdient. Xherdan Shaqiri, Manuel Akanji, Yann Sommer, Granit Xhaka, Ricardo Rodriguez, Breel Embolo – sie alle standen 2018 auf dem Platz. Und wissen, was es 2022 braucht.
Es war schon immer so, und ist es heute noch: Die Brasilianer stürmen lieber, als dass sie verteidigen. Das ist Samba für sie, ihr Takt des Fussballs. Zwar haben die Brasilianer in der Zwischenzeit auch gemerkt, dass es die Defensive für den Weltmeistertitel braucht. Aber die Aussenverteidiger stehen sehr hoch und gehen bei Ballverlusten sofort ins Gegenpressing; weil sie vorne mitmachen wollen.
Das muss die Schweiz aus ihrer gesicherten Defensive antizipieren, um mit Bällen hinter die brasilianische Abwehrreihe Nadelstiche zu setzen. Zudem: Aussenverteidiger Danilo fehlt verletzt, ihn könnte Dani Alves ersetzen, der nur noch in Mexiko spielt und mit 39 Jahren schlicht zu alt ist.
Sechs Schweizer waren an der WM 2014 in Brasilien schon dabei. Shaqiri ist unser Rekordspieler mit sechs Endrunden-Teilnahmen. An Erfahrung mangelt es der Mannschaft von Trainer Murat Yakin nicht, der Blick auf die WM 2018 untermauert diesen Eindruck: Da waren elf Akteure schon dabei, die jetzt in Katar etwas reissen wollen. Die Turniererfahrung hilft in Sachen Widerstandsfähigkeit. Bei den Brasilianern zeigt sich vor allem im Mittelfeld und Sturm: Die WM-Bühne ist nur wenigen bekannt. (aargauerzeitung.ch)
Ich hoffe einfach, dass die Schweizer das Spiel gegen Brasilien nicht als emotionalen Höhepunkt sehen und danach gegen Serbien verlieren. Das gab es auch schon, nach dem WM-Sieg gegen Spanien an der WM in Südafrika. Danach war die Luft draussen.