Der Verrückte befiehlt: «Lasst sie das Tor schiessen!»
Es ist Sonntag, der 28. April 2019 und Leeds United empfängt in der Championship Aston Villa. 36 786 Zuschauer sind an die Elland Road gekommen, um das Spitzenspiel zu sehen. Zwanzig Minuten vor dem Ende bleibt ein Villa-Spieler verletzt am Boden liegen und seine Teamkollegen, denken, Leeds spediere den Ball nun ins Out. Doch die Gastgeber nützen aus, dass der Gegner nicht bei der Sache ist und schiessen das 1:0.
Es kommt zum Tumult, der in einer Roten Karte für einen Villa-Profi gipfelt. Dann übernimmt Marcelo «El Loco» Bielsa mit seiner Fairplay-Aktion das Kommando. Leeds steht Spalier und lässt Villa den Ausgleich erzielen; die Gemüter beruhigen sich, es bleibt beim 1:1. In den folgenden Playoffs scheitert Leeds, Aston Villa jedoch gewinnt das wertvollste Finalspiel der Welt gegen Derby mit 2:1, steigt auf und bekommt unter dem Strich 185.5 Millionen Euro in die Kassen gespült.
In der folgenden Saison aber belohnt der Fussballgott die grosse Geste des Argentiniers. Bielsa, der Vater ein Rechtsanwalt, die Mutter Universitätsdozentin und der Bruder einst argentinischer Aussenminister, gewinnt mit seinem Team und zehn Punkten Vorsprung die Championship. Nach 16 Jahren in der Zweitklassigkeit ist Leeds, der ruhmreiche dreifache Champion und Finalist im Meistercup von 1975, zurück im Oberhaus. Und die Premier League erhält zu Jürgen Klopp und Pep Guardiola einen weiteren der ganz Grossen der Trainergilde. «Ich bin kein erfolgreicher Trainer. Wenn über mich gesprochen wird, sind immer die fehlenden Titel das Thema», kokettiert der 65-Jährige allerdings gern.
Unrecht hat er nicht. Die drei Meistertitel in Argentinien und der Olympiasieg mit den Gauchos 2004 beeindrucken nach bald vierzig Trainerjahren nicht sonderlich. Dennoch sagt Guardiola: «Er ist der beste Trainer der Welt.» Mauricio Pochettino, zuletzt Tottenham, sagt: «Er ist ein Genie.» Und als Bielsa vor zwei Jahren zu Leeds United kommt, sagt Gaetano Berardi: «Ich kann nicht glauben, dass dieser Mann bei uns ist.» Bitter für den einfachen Schweizer Nationalspieler: Im vorletzten Spiel der Aufstiegssaison zieht er sich einen Kreuzbandriss zu und ist nun nach ausgelaufenem Vertrag verletzt und vereinslos, ein Traum ist geplatzt.
Immerhin hat der Tessiner während zwei Jahren erleben dürfen, weshalb so viele von Bielsa schwärmen und ihn andere nur «El Loco» nennen. Verrückt ist er natürlich nicht wirklich, doch die Art, wie er sich in seine Arbeit verbeisst, hat ihm diesen Spitznamen eingetragen. Oder weil er in Bilbao an der Seitenlinie jeweils 13 Schritte nach links und dann wieder 13 Schritte nach rechts gemacht hat. Als er vor zwei Jahren nach missglückten Missionen bei Lazio (ging nach zwei Tagen wieder) und Lille (ging mit einer Abfindung von 15 Millionen Euro nach fünf Monaten) von Leeds als Trainer präsentiert wird, spricht er anderthalb Stunden lang. Er sagt, er habe alle 51 Spiele der vergangenen Saison gesehen und analysiert.
Später lässt er seine Spieler während drei Stunden die Umgebung des Trainingsgeländes vom Abfall säubern und erklärt, so lange müssten die Fans arbeiten, um sich ein Matchticket kaufen zu können. In der letzten Saison lässt er durch Mitarbeiter die Trainings seiner Gegner ausspionieren; von einem Hügel aus und mit Fernglas. Es gibt einen Riesenskandal und die Busse von 200 000 Pfund bezahlt er selber. An der Pressekonferenz zeigt er provokativ in einer Power-Point-Präsentation bis ins letzte Detail, was seine Spionage jeweils ergeben hat.
Eddy Gray war 1969 Meisterspieler und dann Trainer der damaligen Knochenbrecher von Leeds. Er sagt heute: «Die Verpflichtung von Bielsa war ein Coup. Er lässt einen wunderbaren Fussball spielen.» Der Schweizer Ezgjan Alioski würde ergänzen: «Und unglaublich hart trainieren.» Die Spiele verfolgt Bielsa auf einer blauen Kühlbox sitzend. Sie ist Kult und im Fanshop für 70 Pfund zu haben.
Als Abstiegskandidat gilt das 2007 gar für drei Jahre in der League One verschwundene Leeds nicht. Der italienische Besitzer Andrea Radrizzani, ein Medienmogul, hat zusammen mit dem spanischen Sportchef Victor Orta auf dem Transfermarkt zugelangt und für 30 Millionen Euro von Valencia den Stürmer Rodrigo und für 13 Millionen von Freiburg den Verteidiger Robin Koch geholt. Nun soll vielleicht auch noch Julian Draxler vom PSG kommen. Am Samstag spielen die Peacocks (Pfauen) bei Meister Liverpool. Hinten reinstellen werden sie sich nicht. Bielsa sagt: «Wer schönen Fussball dem Ergebnis opfert, den sollte man foltern.» (aargauerzeitung.ch)
Genial!