Spanien gewinnt in Sydney den WM-Final gegen England mit 1:0 und krönt sich erstmals zum Weltmeister. Der spanische Fussball-Verbandspräsident Luis Rubiales greift bei der Siegerehrung den Kopf von Stürmerin Jennifer Hermoso und presst seine Lippen auf ihren Mund. Zuvor jubelt der 46-Jährige auf der Ehrentribüne, fasst sich dabei an die Genitalien. Neben ihm stehen die spanischen Königin Letizia und deren 16-jährige Tochter Sofia.
Bereits einen Tag nach dem historischen Erfolg wird kaum mehr über das Sportliche berichtet. Der Verbandschef sieht sich mit einer Welle der Empörung konfrontiert und tätigt bei der Zwischenlandung in Doha eine halbherzige Entschuldigung in die Kameras des eigenen Pressestabs. Er sagt: «Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, oder?»
Der Verband lädt zu einer ausserordentlichen Vollversammlung ein. Am Vorabend berichten die Medien übereinstimmend, dass Luis Rubiales zurücktreten werde. Doch der ehemalige Profiverteidiger überrascht alle und holt zum Rundumschlag aus. Er sieht sich als Opfer einer «sozialen Hinrichtung» und spricht von einem «falschen Feminismus», betont, dass der Kuss einvernehmlich gewesen sei. «Ich werde nicht zurücktreten», brüllt er fünfmal ins Mikrofon. Nach seinem Monolog erhält er von verschiedenen Akteuren stehende Ovationen, etwa von den Nationaltrainern Jorge Vilda (Frauen) und Luis de la Fuente (Männer).
Hermoso selbst äussert sich am Abend. «Ich möchte klarstellen, dass ich zu keinem Zeitpunkt dem Kuss eingewilligt habe.» Ihre Teamkolleginnen streiken und wollen so lange nicht mehr auflaufen, bis sich im Verband Strukturen ändern.
Sechs Tage nach dem Kuss-Skandal zieht der Weltverband FIFA Konsequenzen und suspendiert Luis Rubiales, der neben seinem Posten als Verbandschef auch als Vizepräsident der Uefa amtet. Die Sperre ist vorläufig für 90 Tage. Sie gilt für alle fussballbezogenen Aktivitäten auf nationaler und internationaler Ebene. Als Verbandspräsident wird Rubiales' Vize Pedro Rocha interimistisch eingesetzt. Mittlerweile steht Weltmeistertrainer Vilda ohne Trainerteam da, das aus Solidarität zu Hermoso den Rücktritt erklärt.
Die Mutter von Rubiales schliesst sich in der andalusischen Stadt Motril in einer Kirche ein und tritt in den Hungerstreik. Sie will diesen so lange durchziehen, bis der «Gerechtigkeit Genüge getan» sei. Dieser endet jedoch bereits am dritten Tag aufgrund eines Schwächeanfalls im Krankenhaus.
Weltmeistertrainer Vilda muss seinen Posten räumen. Zwar hatte er sich Tage zuvor in einer Stellungnahme noch von Rubiales distanziert, doch da war es bereits zu spät. Im September 2022 waren bereits 15 Spielerinnen gegen den Trainer in den Streik getreten, um gegen dessen Methoden zu protestieren. Montse Tomé wird zur Nachfolgerin ernannt. Die 41-Jährige war seit 2018 unter Vilda Co-Trainerin.
Jennifer Hermoso stellt Anzeige gegen Luis Rubiales. Zwei Tage später reicht die spanische Staatsanwaltschaft Klage wegen sexueller Nötigung ein.
In einem Interview mit dem englischen Journalisten Piers Morgan kündigt Rubiales seinen Rücktritt an, «weil ich meine Arbeit nicht fortsetzen kann». Er war im Mai 2018 zum Präsidenten des spanischen Verbandes gewählt worden. Einsichtig zeigt er sich dennoch nicht. Er geht und hinterlässt einen riesigen Scherbenhaufen.
Der ehemalige Verbandschef darf sich Hermoso nach einer einstweiligen Verfügung eines Untersuchungsrichters nur noch bis auf 200 Meter nähern. Am Abend kündigen 21 der 23 Weltmeisterinnen an, weiterhin zu streiken. Die Änderungen im Verband sind für sie zu wenig weitreichend.
Trotz Boykott beruft die neue Nationaltrainerin ihr Kader für die Nations-League-Partien gegen Schweden und die Schweiz. Darunter befinden sich 15 Weltmeisterinnen im Aufgebot.
Die Spielerinnen erscheinen beim Treffpunkt des Nationalteams. Viele davon sehen sich aufgrund des Sportgesetzes dazu «gezwungen». Mit diesem können Geldstrafen sowie langjährige Sperren für Nominierte ausgesprochen werden, die nicht erscheinen. Eine Sperre wäre für die meisten gleichbedeutend mit dem Karriereende.
Der Präsident der obersten spanischen Sportbehörde CSD, Victor Francos, leitet bis in die frühen Morgenstunden die Verhandlungen zwischen Spielerinnen und Verband. Es werden «tiefgreifende» Strukturveränderungen und Reformen versprochen. Von den 23 Profis lassen sich 21 von einem Einsatz überzeugen. Als Folge wird Generalsekretär Andreu Camps, der als rechte Hand von Rubiales gilt, von seinen Aufgaben entbunden. Der Streik wird abgewendet.
22. September 2023: Die Spanierinnen laufen erstmals mit dem Weltmeisterstern auf der Brust auf. Sie gewinnen die Auswärtspartie gegen Schweden mit 3:2. Vor dem Spiel versammeln sich die Spanierinnen zusammen mit den Schwedinnen hinter einem Plakat mit der Aufschrift «#SeAcabó» – zu Deutsch: «Schluss jetzt». (aargauerzeitung.ch)