Der Tenor in den deutschen Medien nach dem berauschenden Auftritt gegen Portugal war eindeutig: «Joachim Löw hat es allen gezeigt.» Seit knapp drei Jahren und dem blamablen Ausscheiden in der Vorrunde an der WM in Russland nach Niederlagen gegen Mexiko und Südkorea steht der Bundestrainer in der Kritik. Befeuert wurde diese früh durch die (letztlich nur temporäre) Ausbootung der Arrivierten Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng sowie den (vermeintlichen) Abstieg bei der Premiere der Nations League.
Bundestrainer Jogi #Löw hat es gegen Portugal allen gezeigt. BILD-Experte Marcel Reif verrät, in welchem Bereich der Bundestrainer von vielen unterschätzt wird.
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Aber erst nach dem epochalen 0:6 im letzten Herbst in Spanien kam Löw zur Einsicht – ob freiwillig oder nicht –, von seinem ursprünglichen Plan abzurücken und seinen frühzeitigen Abgang nach der EM anzukündigen. Doch auch das Wissen um das nahende Ende der 15-jährigen, vom WM-Titel 2014 gekrönten Ära sorgte nur kurz für Besänftigung. Nach dem 1:2 in der WM-Qualifikation Ende März gegen Nordmazedonien brachen die Diskussionen wieder los.
Diese setzten sich auch an der EM fort. Nach dem 0:1 zum Turnierstart gegen Frankreich wurde landauf, landab über Dreier- und Viererketten debattiert. Oder darüber, ob Löw gegen den Weltmeister von 2018 zu vorsichtig agiert hat, anstatt auf die eigenen Stärken zu setzen, die zweifelsohne in der Offensive liegen. «Es ist schön, dass wir mal wieder 82 Millionen Bundestrainer im Land haben statt 82 Millionen Virologen», sagte Leon Goretzka, was angesichts der über Monate harten Corona-Restriktionen in Deutschland nicht zwingend negativ gemeint war.
🎙️ @leongoretzka_: "Wir haben mit Abstand die schwierigste Gruppe. Da zählt Ungarn natürlich auch dazu. Den Abwehrriegel muss man erstmal knacken. Wir sind hochmotiviert und werden Lösungen finden. Unser klares Ziel ist, das Spiel zu gewinnen."#GERHUN #EURO2020 #GER #Goretzka pic.twitter.com/FD8lRVmEon
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Das deutsche Manko ist die fehlende Balance. Wie fragil die Defensive noch immer ist, zeigte sich auch gegen Portugal. Der Konter vor dem 0:1 unterstrich die Tempoanfälligkeit der deutschen Abwehr. Und wäre der Schuss von Renato Sanches nicht am Pfosten, sondern zum 3:4 im Tor gelandet (79.), hätte die vermeintliche Gala noch ein bitteres Ende nehmen können. Matthias Ginter, Mats Hummels und Antonio Rüdiger gehören ebenso wie Niklas Süle oder Emre Can nicht zur europäischen Top-Klasse. Im Angriff hingegen hat Löw die Qual der Wahl: Goretzka, Timo Werner und Leroy Sané heissen die möglichen Alternativen.
Zu was die deutsche Offensive fähig ist, bewies sie gegen den amtierenden Europameister, als Angriff um Angriff auf die portugiesische Abwehr zurollte. Der rasante Auftritt war auch die Geburt eines neuen potenziellen Lieblings der Massen: Robin Gosens. Der 26-jährige Teamkollege von Remo Freuler bei Atalanta Bergamo galt vor dem Turnier als Schwachstelle auf der linken Seite. Gegen Portugal spielte er den Match seines Lebens.
«Sein Karriereweg ist exotisch, seine Sprache hat etwas ‹Poldi›-haftes», schrieb die Nachrichtenagentur dpa. Aufgrund seines Aussehens und seiner Artikulation vergleichen viele den Sohn eines Niederländers und einer Deutschen mit Lukas Podolski, der mehr als ein Jahrzehnt die Rolle des «Gute-Laune-Bärs» im deutschen Ensemble spielte. «Affengeil» fand Gosens den Abend in München. Tore nennt er «Hütten», und bei solchen geht ihm «einer ab». Gosens wurde nicht in einer Nachwuchsakademie ausgebildet und spielte bis 18 noch im Amateurfussball, ehe er den Weg via Niederlande in die Serie A fand.
Am Mittwoch werden die Augen vermehrt auf Gosens gerichtet sein. Für ihn und das deutsche Team gilt es, den Schwung mitzunehmen und die Leistung aus dem Spiel gegen Portugal zu bestätigen. Trotz des Stimmungswandels und dem Anflug einer Euphorie im Land bleibt die Lage vor dem abschliessenden Gruppenspiel gegen Ungarn aber fragil. Ein kollektives Versagen wie zuletzt gegen Spanien oder Nordmazedonien und die Ära Löw wäre am Mittwochabend in München nach 197 Länderspielen abrupt beendet. (pre/sda)
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