Es lief die 47. Spielminute des zweiten Vorrundenspiels gegen Portugals, als Deutschlands Robin Gosens auf der linken Abwehrseite Cristiano Ronaldo bis an die Grundlinie verfolgte, grätschte – und dessen Flankenversuch in deutschem Ballbesitz endete.
Die Menge tobte ob des unbändigen Einsatzes Gosens'. Der 26-Jährige aus Emmerich am Rhein (NRW) machte in den Augen vieler Fans an diesem Samstagabend das Spiel seines Lebens – auch wenn Bundestrainer Joachim Löw dies für zu hoch gegriffen hielt: «Ich weiss nicht, ob er das Spiel seines Lebens gemacht hat. Das hat er vielleicht noch vor sich.»
Löw bilanzierte: «Robin hat kampfbetont gespielt, war torgefährlich. Das, was er gezeigt hat, ist das, was wir brauchen.» Er überzeugte mit Einsatz und Leidenschaft, riss das Publikum mit und sorgte bei den Fans für etwas, was im Zusammenhang mit der DFB-Elf zuletzt rar war: Begeisterung. Dass Gosens aber einmal zum deutschen Hoffnungsträger werden würde, war vor einigen Jahren nicht abzusehen.
Gosens ist kein typischer moderner Fussballer. Er entspringt nicht etwa einer der vielen Nachwuchsakademien, die so viele seiner Nationalmannschaftskollegen durchliefen. Sein Weg war ein anderer. Ein unkonventioneller. Als einziger Spieler im Kader von Joachim Löw hat Gosens keinerlei Bundesliga-Erfahrung – und gesteht sich auch Lücken in der Regelkunde ein.
Nahe an der niederländischen Grenze geboren, spielte Gosens noch im April 2012 mit 17 Jahren in der A-Jugend des VfL Rehde in der Niederrheinliga. Der grösste Rivale war der 1. FC Kleve. Doch der vielleicht noch grössere Gegner war die Dorfdisco «Blues», in der Gosens und seine Mannschaftskameraden regelmässig am Vorabend des sonntäglichen Spiels einkehrten. Inklusive Döner um vier Uhr morgens, versteht sich.
Feiertrunken und mit Schlafmangel stand Gosens eines Tages wieder auf dem Platz. Sein VfL Rehde gewann trotzdem mit 3:1. Gosens, der glaubte mit «drei Atü auf dem Kessel noch besser spielen zu können», wollte einfach unter die Dusche. Doch ein Scout aus Arnheim hielt ihn auf – und bot ihm ein Probetraining an. Gosens überzeugte und wechselte zu Vitesse ins von Rehde mit dem Auto 30 Minuten entfernte Arnheim und spielte ab sofort dort für die Vereinsjugend.
In den Niederlanden reifte er zum Profi. Von Arnheim ging es über Zweitligist Dordrecht zum niederländischen Erstligisten Heracles Almelo. Von dort wechselte er 2017 für die im modernen Fussball lächerliche Ablösesumme von 1,17 Millionen Euro zu Atalanta Bergamo in die Serie A.
In Italien entwickelte sich der wortgewandte Spieler zu einem der besten Spieler der Liga. Einen entscheidenden Anteil daran hatte Trainer Gian Piero Gasperini, der ihn fussballerisch und taktisch schulte und auf ein neues Level hob.
Mit Atalanta mischte Gosens, der im Klub wie im Nationalteam auf der linken Aussenbahn agiert, die Liga auf. Bis in die Champions League führte ihn sein Weg, ehe die Pandemie im März 2020 sowohl Gosens als auch Atalantas Höhenflug vorerst jäh beendete.
Er und seine Freundin Rabea, die gemeinsam in einer Dachgeschosswohnung mitten in der Stadt wohnen, vertrieben sich mit Tik-Tok-Videos und Innenhof-Sport die verpflichtende Isolation in Quarantäne. Die Pandemie kam für Gosens zur absoluten Unzeit. Im Februar hatte Bundestrainer Löw durchblicken lassen, ihn für die Länderspiele im März zu nominieren. Gosens' DFB-Debüt entfiel.
Doch Gosens verzagt nicht – im Gegenteil. Um sich zu motivieren, hängt der Sohn eines Niederländers ein DFB-Trikot Thomas Müllers, besorgt von Atalanta-Mitspieler Marten de Roon, in die Mitte seines Fensters. «Robin Gosens wird nahtlos an seine bisherigen Leistungen anknüpfen und sich bald deutscher Nationalspieler nennen – daran bestand für mich kein Zweifel, das nahm ich mir fest vor», schreibt Gosens in seiner persönlichen Biographie «Träumen lohnt sich», die im vergangenen April erschien.
Jener Müller, dessen Nationalmannschaftskarriere vorbei zu sein schien, war es also, der Gosens nicht verzagen liess – und mit dem er nun gemeinsam das zweite EM-Gruppenspiel gegen Portugal gewann. Zwei Torvorlagen und einen Treffer steuerte Gosens bei. Drei Tor-Beteiligungen in einer EM-Partie gelangen zuletzt Bastian Schweinstiger 2008 – gegen Portugal.
«Wir schätzen ihn sehr als Typen. Er ist aktiv in der Kommunikation und hat einen guten Draht zu allen Spielern», lobte ihn der Bundestrainer nach dem erlösenden Sieg. «Er ist klar im Kopf, geradlinig. Ein Typ, wie sein Spiel. Klare Kante, er kämpft für alles, was ihm wichtig ist.» Einer wie Podolski? Vielleicht noch besser.
Auch Gosens selbst war die pure Freude nach der Partie anzusehen. «Joachim Löw hat uns gestern eingeheizt. Heute war das ein Alles-oder-Nichts-Spiel. Da war Druck auf dem Kessel. Wir haben alles reingehauen und ich bin happy, dass wir uns belohnt haben», so der «Man of the Match» freudestrahlend.
Wirklich realisiert schien Laufmaschine Gosens das Erlebte jedoch noch nicht zu haben. «Kannst mich gerne mal zwicken. Selbst dann glaube ich das nicht», flachste er mit ARD-Reporter Lennert Brinkhoff nach seinem zweiten Länderspieltor.
«Ein Tor für die Nationalmannschaft zu schiessen, ist immer besonders. Dann noch bei so einem Spiel – da geht mir wieder einer ab. Ich werde das heute und morgen geniessen. Dann geht die Fahrt aber wieder weiter in Richtung Ungarn.» In der Tat ist für die Nationalmannschaft nun alles drin: von Platz eins bis Platz vier.
Dass Gosens gegen Ungarn mitwirken kann, gilt als wahrscheinlich. Die Adduktoren schmerzten ihn zwar, sodass die Partie gegen Portugal für den Sohn einer Arzthelferin sowie eines Baunternehmers nach gut einer Stunde beendet war. Die Verletzung sei aber «nichts Dramatisches», gab Bundestrainer Löw nach der Partie Entwarnung.
Gosens selbst wagte auf der Pressekonferenz im Anschluss an das Spiel nicht nur einen Blick nach vorne. Er warf auch einen zurück. «Der Sieg bedeutet mir alles. Die Trophäe (zum Spieler des Spiels, Anm. d. Red.) ist gigantisch, das ist nicht in Worte zu fassen. Wenn ich zurückblicke auf den Weg, den ich gegangen bin, ist das unbeschreiblich. Das wird für immer in Erinnerung bleiben. Ein Abend, den ich nie im Leben vergessen werde.»
btdnl