Es ist ja nicht so, das Jamie Vardy ein Unbekannter ist. Seine Geschichte ist schon viele Male erzählt worden. Der frühere Fabrikarbeiter, der wegen einer Schlägerei in einem Nachtclub eine Fussfessel tragen musste. Der Fussballer, der erst in seinen späten Zwanzigern in derPremier League ankam – und erst im Mai vergangenen Jahres erstmals für Englands Nationalmannschaft nominiert wurde. Mit 28 Jahren.
Und dann kommt Vardy beim Stand von 1:2 gegen Weltmeister Deutschland in der zweiten Halbzeit auf den Platz, hat ein, zwei Ballkontakte, und trifft zum Ausgleich. Mit der Hacke um DFB-Verteidiger Antonio Rüdiger herum, ganz im Geiste von Gianfranco Zola oder, wenn man denn so will, André Schürrle. Es wird in England wohl das Tor des Monats werden. Da blieb selbst Manuel Neuers Reklamierarm unten. «Manchmal verteidigt man gut und der Gegner macht es besser», kommentierte DFB-Angreifer Thomas Müller das Spektakel.
Deutlich euphorischer waren natürlich die britischen Zeitungen: Von der «Anmut einer Gazelle» schrieb die englische Boulevard-Zeitung «Sun», der «Mirror» sah einen weiteren Tag in Vardys «unmöglicher Geschichte» – und sogar der seriöse «Guardian» liess sich zu einem «kolossal» hinreissen.
Die englischen Sportjournalisten waren gut aufgelegt. Auch, weil England dank der weiteren Treffer von Harry Kane (61. Minute) und Eric Dier in der Nachspielzeit 3:2 gegen Deutschland gewann – nachdem die «Three Lions» bereits 0:2 hinten gelegen hatten. Viele englische Fans, an diesem Abend eh die deutlich stimmgewaltigeren Anhänger, entledigten sich trotz frostiger Temperaturen freudig ihrer Oberbekleidung.
«Das war definitv das bisherige Highlight meiner Saison», sagte Vardy nach der Partie. Was angesichts von 21 Toren und Platz eins mit Leicester City in der Liga schon eine bemerkenswerte Aussage ist. «Als Einwechselspieler will man den Ausgang des Spiels immer beeinflussen. Zum Glück hat mein kleiner Hackentrick funktioniert.»
Englands Nationaltrainer Roy Hodgson war die Euphorie um den Sieg nicht ganz geheuer. «Lasst uns nicht übertreiben. Wir müssen sicherstellen, dass die Spieler nicht abheben», sagte der 68-Jährige: «Es war nur ein Freundschaftsspiel, dem darf man nicht zu viel Wichtigkeit beimessen. Wir müssen bescheiden bleiben.»
Hodgson wies zudem darauf hin, dass viele seiner Spieler erst ihr «zweites oder drittes Spiel» in der Nationalmannschaft absolvieren. Auch für Vardy war es erst der fünfte Einsatz. «Ich will, dass sie hungrig bleiben und weiter aus ihren Fehlern lernen.» Hodgson habe Bedenken, «dass die ganze Kritik aus der Vergangenheit nun auf einmal vergessen wird. Wir sind ein Team, das sich in einer Entwicklung befindet.»
Der Coach muss nun eine unangenehme Debatte moderieren, denn in der Offensive hat er die Qual der Wahl. Vardy, Kane und Danny Welbeck standen gegen Deutschland auf dem Platz, doch da ist ja noch der Kapitän: der derzeit Verletzte Wayne Rooney. In den sozialen Netzwerken und den Foren der Zeitungen ist der Tenor klar: «Das ist der Beweis, dass Rooneys Tage vorüber sind», «Kane muss in der Startaufstellung stehen» oder: «Ich hoffe, Hodgson hat den Mut mit Kane und Vardy zu spielen».