Mit dem Spiel Italien gegen die Türkei hätte heute Abend um 21 Uhr in Rom die Fussball-Europameisterschaft beginnen sollen. Viele hatten das vermutlich gar nicht mehr auf dem Radar – zumindest mir ging es so. «Mir ist es recht eingefahren, als mir das vorhin bewusst wurde», meinte ein Kollege in der Redaktion. Denn so realisieren wir wieder, wie stark die Coronavirus-Pandemie unsere Welt bereits verändert hat.
Der Gedanke an das verschobene Turnier stimmt etwas wehmütig, denn es erinnert uns an all die tollen Dinge, die während eines Fussballsommers selbstverständlich sind. Dinge, die jetzt aber (noch) nicht stattfinden können.
Erinnert ihr euch noch an die EM 2016, als es in der Gruppenphase zum Duell zwischen der Schweiz und Albanien kam? Man war unsicher, ob es nicht doch zu Spannungen kommen würde – auf und vor allem auch neben dem Platz. Und die Realität? Die war so friedlich, wie es nur ging.
Schweizer und Albaner sorgten in der Schweiz für ein Fussballfest, feierten gemeinsam auf den Strassen. Albanische Fans hupten auch nach dem 0:1 im Auftaktspiel, als hätten sie gerade einen Titel gewonnen. Und die Schweizer liessen sich auch von Albanien mitreissen, jubelten über den Sieg des Balkanlandes über Rumänien und litten mit, als es dann doch nicht für die Achtelfinals reichte.
Während Europa- und Weltmeisterschaften interessiert sich plötzlich die ganze Schweiz für Fussball. Egal, welches Land man unterstützt oder welche Wurzeln man hat, es wird gemeinsam gejubelt, geweint und gefeiert.
Weil sich plötzlich alle für Fussball interessieren, haben auch Tippspiele Hochkonjunktur. Egal, ob im privaten Freundeskreis, in einem Verein oder auf der Arbeit – überall wird getippt, überall gibt es Preise zu gewinnen.
Und klar, am Ende regst du dich darüber auf, dass wieder die Person gewonnen hat, die eigentlich gar keine Ahnung von Fussball hat und überall nur 2:1 getippt hat. Aber Spass macht das Tippspiel eben trotzdem, weil es selbst weniger attraktiven Affichen Bedeutung gibt.
Ja, das Essen ist teuer, das Bier ist meist etwas schal und der Blick auf die Leinwand oft schlecht. Aber irgendwie sind Public Viewings einfach trotzdem geil. Es gibt dir das Stadion-Feeling, ohne hunderte von Franken für offizielle Tickets auszugeben.
Es ist auch ein guter Ort, um neue Leute kennen zu lernen. Nichts startet schneller eine Diskussion, als ein leichtfertig in die Runde geworfenes: «Das war nie und nimmer eine gelbe Karte.» Und wer lieber den etwas kleineren Rahmen vorzieht, kann auch einfach zuhause ein paar gute Menschen einladen und eine EM-Grillparty schmeissen.
Mit jedem neuen Turnier ist auch jedes Mal neue Hoffnung da, dass die Schweizer Nati nun doch noch den Sprung in den Viertelfinal schafft. Ja, meist wird das Land gar von einer für die oft zurückhaltenden Schweizer untypischen Euphorie erfasst.
Zwar wird diese Begeisterung in der k.o.-Phase dann meist im Keim erstickt, egal wie gut die Ausgangslage ist (WM-Achtelfinal gegen Schweden, anyone?). Doch vielleicht wäre es ja dieses Jahr endlich so weit gewesen ...
Und schliesslich ist eine Europameisterschaft ja einfach auch ein Fussballfest. Nicht nur die Schweiz spielt mit, sondern der ganze Kontinent die besten Mannschaften des Kontinents. Jeden Tag hast du irgendein geiles Spiel.
England und Kroatien treffen sich zum Rematch des WM-Halbfinals von 2018. Frankreich, Deutschland und der amtierende Europameister Portugal treffen in einer Gruppe aufeinander. Man darf sich darauf freuen, was das wiedererstarkte Holland und Belgien auf den Rasen zaubern. Und falls Italien sich wieder blamieren sollte, hat man wenigstens etwas zum Lachen. Doch auf all diese Knüller müssen wir nun noch ein Jahr länger warten.
Nun wollen wir aber nicht endgültig in einer Fussball-Depression versinken. Deshalb sei hier noch folgender Hinweis erlaubt: Ausgerechnet der heutige Tag ist auch der erste Tag nach der Corona-Pause, an dem es wieder ein richtig diverses Fussball-Angebot zu sehen gibt:
Danke! :P