Im WM-Final vom 30. Juli 1966 trifft Geoff Hurst in der 101. Minute im Wembley zum 3:2 (Endstand 4:2 n. V.). Der Ball prallt von der Unterkante der Latte auf den Boden und wird dann von Verteidiger Wolfgang Weber übers Tor ins Aus geköpft.
Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet zunächst auf Eckball und erst nach Rücksprache mit dem sowjetischen Linienrichter Tofif Bachramow auf Tor. Die Kommunikation erfolgt auf Englisch, obwohl Bachramow nur Aserbaidschanisch und Russisch spricht.
Kein Wunder hat Deutschlands Goalie Hans Tilkowski, der den unhaltbaren Treffer kassierte, für seine Autobiografie den Titel gewählt: «Und ewig fällt das Wembley-Tor». Torschütze Geoff Hurst sagte zu seinem Treffer, dem wohl meistdiskutierten der Fussballgeschichte:
Bis heute ist unklar, ob der Ball drin war oder doch nicht. Die TV-Bilder liefern keinen Beweis. Wissenschaftliche Untersuchungen neigen zur Ansicht: kein Tor. Hans Tilkowski hat übrigens nicht reklamiert. Die Reklamation bei Schieds- und Linienrichter überlässt er Captain Uwe Seeler, Verteidiger Willi Schulz und zwei anderen Feldspielern. Von Rudelbildung kann keine Rede sein. Hätte Gottfried Dienst den Treffer nicht gegeben, wäre er nicht einer der berühmtesten Schiedsrichter der Welt geworden. Der Pöstler galt in den 1950er und 1960er Jahren als einer der besten in Europa.
1966 gibt es noch keinen VAR. Hätte es den VAR damals schon gegeben, wäre der Treffer wahrscheinlich nicht gegeben worden und der Weltfussball um eine seiner besten Geschichten gekommen. Sicher ist das allerdings nicht.
2021 gibt es den VAR. Also den Video-Assistenten (englisch: Video Assistant Referee). Er soll aufgrund der TV-Bilder auf Fehlentscheidungen des Schiedsrichters hinweisen bzw. seine Fehlentscheidungen korrigieren.
Der Fehlentscheid – ein «Phantom-Penalty» bringt England den Siegestreffer zum 2:1 und nach 55 Jahren erstmals wieder die Final-Qualifikation in einem Titelturniers – zeigt: Die Magie des Fussballs ist stärker als die Suche nach Perfektion: Zur Magie des Fussballs gehören Fehlentscheide des Schiedsrichters. Jetzt, mit dem VAR, halt der Schiedsrichter. Das ist tröstlich. Wir dürfen weiterhin auf Fehlentscheide hoffen, die für Gesprächsstoff sorgen. Was wäre Sport ohne umstrittene Pfiffe der Schiedsrichter? Eben.
Anders als beim «Phantom-Tor» von 1966 zeigen die TV-Bilder 55 Jahre später klar, dass es ein «Phantom-Penalty» war. Also ein Fehlentscheid. Ich schliesse mich da der Meinung von Sascha Ruefer an. Er ist schliesslich der Beste.
Wieder im Wembley, dem wohl berühmtesten Fussball-Stadion der Welt, in dem nur der FA-Cupfinal und Länderspiele ausgetragen werden. Der Romantiker sagt: Fehlentscheide sind der Magie des englischen Fussballs geschuldet. Eine Kompensation der Fussball-Götter für die vielen verlorenen Penalty-Dramen der Engländer bei Titelturnieren. Dazu passt, dass Harry Kane erst im Nachschuss trifft. Kasper Schmeichel hatte den Elfmeter pariert. So berühmt wie unser Gottfried Dienst wird der Holländer Danny Makkelie nach dem umstrittenen Penalty-Fehlentscheid allerdings nicht werden.
Wie 1966 die Deutschen nehmen 55 Jahre später auch die Dänen den noch viel offensichtlicheren Fehlentscheid sportlich hin. Und Raheem Sterling sollte sich Geoff Hurst zum Vorbild nehmen und später einmal im Rückblick auf diesen Halbfinal sagen:
Ääähm, nein, das ist nicht tröstlich. Ganz im Gegenteil! Wieso diese Schönfärberei?
Dann lieber "nur" den Faktor Mensch ohne jeglich Videotechnik. Und wenn schon VAR, dann sollen Fehler korrigiert werden - und nicht nur, "wenn es krasse Fehlentscheide" sind. Dieser Penalty hat einen ganz, ganz bitteren Beigeschmack.