Zwei Sätze genügen und man weiss, wo der Gesprächspartner herkommt. Der Bündner Dialekt ist unverkennbar, als der Fussballer Senad Lulic am Sonntagmorgen am Telefon schildert, wie er am Abend zuvor auf der Tribüne des Olimpico in Rom sass und beim 0:3 gegen die AC Milan Zeuge der ersten Heimniederlage von Lazio wurde. Die Absenzen der beiden gesperrten Goalgetter Ciro Immobile (29 Tore) und Felipe Caicedo (8) wogen zu schwer. «Klar sind wir enttäuscht. Ciro ist immer für Tore gut», sagt Lulic. Er weiss, dass es nach dem 4:1 von Leader Juventus gegen Torino und dem Ausbau seines Vorsprungs auf sieben Punkte für Lazio nichts mehr wird mit dem Meistertitel.
Doch Lulic streicht lieber hervor, was Lazio in dieser Spielzeit geleistet hat. «Unser Ziel war nie der Scudetto, sondern nach einigen knapp verpassten Teilnahmen einzig die Champions League», sagt Lulic. «Und das haben wir nun geschafft.»
Sagenhafte 20 Punkte Vorsprung haben die zweitklassierten Laziali auf den fünftplatzierten Stadtrivalen AS Roma. Die Niederlage gegen Milan war erst die vierte in 30 Spielen. «Unser langfristiges Projekt trägt Früchte. Wir sind eingespielt, arbeiten seit vier Jahren unter Trainer Simone Inzaghi und haben eine Mannschaft mit einem guten Teamgeist», sagt Lulic.
Dass auch er am Samstag nicht mittun konnte, hat mit einer im Februar erlittenen Knöchelverletzung und zwei Operationen, die zweite davon in St.Gallen, zu tun. Die Coronapause war ihm daher ganz gelegen gekommen. Das Aufbautraining betrieb er im Bündnerland und er genoss das Familienleben.
1998 war der damals 12-jährige Senad mit seiner Familie wegen des Krieges auf dem Balkan in die Schweiz geflüchtet. Sie hatte im Asylbewerberheim in Schluein Unterschlupf gefunden und nach und nach wurde der Bergkanton für sie eine zweite Heimat. «Uns war immer klar, dass wir nach meiner Karriere hier leben würden», sagt Lulic. Wegen der Einschulung der Kinder beschloss die Familie vor einem Jahr, dass Senads Frau mit dem Nachwuchs schon mal vorzeitig ins Bündnerland zurückkehrt.
Was den Leistungen des Familienoberhauptes auf dem Rasen indes keinen Abbruch tat. Lulic blieb Stammspieler und führte seine Mannschaft als Captain auf den Platz. «Den Weg vom kleinen Chur 97 zum Captain von Lazio geschafft zu haben, erfüllt mich mit Stolz», sagt Lulic.
Als absoluter No-Name 2011 an den Tiber gekommen, steht er nun schon seit neun Jahren bei den Biancocelesti unter Vertrag, hat 351 Pflichtspiele absolviert, 34 Tore geschossen und 50 Assists geliefert. Und zwei Mal den Supercup und zwei Mal die Coppa Italia gewonnen. Der Finalsieg 2013 im Stadtderby gegen die Roma zählt zu den Highlights seiner Karriere. Sein Tor zum 1:0-Sieg sorgte dafür, dass die Tifosi am Tag danach vor seiner Wohnung standen, um sein Goldfüsschen zu küssen. Andere gaben Neugeborenen seinen Namen. Vor allem aber verhalf Lulic mit dem Tor Vladimir Petkovic zum bisher einzigen Titel als Trainer und konnte ihm etwas zurückgeben.
«Er hat einen grossen Anteil an meiner Karriere», sagt Lulic. Petkovic hatte ihn nach seinem Wechsel von Chur zur AC Bellinzona zum Profi gemacht und gesagt: «Das wird mal einer!» Und ihn später bei den Young Boys weiter gefördert.
Als Petkovic 2014 Schweizer Nationaltrainer wurde, konnte er Lulic aber nicht aufbieten. Weil dieser 2008 noch keinen Schweizer Pass gehabt hatte, war er damals dem bosnischen Aufgebot gefolgt, spielte 57 Mal für seine alte Heimat und war in Brasilien bei der WM-Premiere der Bosnier dabei.
Neun Jahre für denselben Klub aufzulaufen, ist im schnelllebigen Fussballgeschäft aussergewöhnlich. «Es gab immer mal wieder Angebote, doch nie einen Grund, von Lazio fortzugehen», sagt Lulic.
Auch jetzt nicht. Trotz abgelaufenem Vertrag und 34 Jahren auf dem Buckel. «Für mich gibt es nicht alte und junge Spieler, nur gute und weniger gute», sagt Lulic. Lazio hat seinem Captain eine Offerte für eine zehnte Saison unterbreitet, und weil Lulic sagt, er wolle so lange wie möglich spielen, hat er sie angenommen. Obwohl er mit vielen grossartigen Spielern wie Djibril Cissé, Miroslav Klose und Sergej Milinkovic-Savic zusammenspielte, reichte es nie für die Champions League. Jetzt wird dieser Traum aber bald in Erfüllung gehen. Seit Anfang Juni weilt Lulic wieder in Rom und bereitet sich auf das Comeback vor. «Vielleicht klappt es sogar noch in dieser Spielzeit mit einem Einsatz», hofft er.
In der Schweiz hat er 41 Mal für die Grasshoppers gespielt, 31 Mal für die Young Boys. Er weiss, was in der höchsten Schweizer Liga abgeht, lobt die jungen St.Galler Himmelstürmer und verfolgt die Entwicklung seines Herzensklubs GC mit Interesse. Der Allrounder, der am liebsten im 3-5-2-System auf der linken Aussenbahn spielt, will nicht ausschliessen, auch in der Super League noch mal mitzumischen. «Aber nur, wenn ich mir sicher bin, dass ich noch mithalten kann. Ich werde die Liga gewiss nicht unterschätzen.» Fest steht im Moment einzig: Mit 34 Jahren ist noch lange nicht Schluss.
Unvergessen aber sein Tor gegen den FCB: