Da ist er endlich. Es ist spät am Abend, als Jürgen Klopp im Salle des Congrès des Hotels Fairmont Le Montreux Palace erscheint. Im mondänen Ort am Genfersee sind die Liverpooler vor ihrem Europa-League-Spiel beim FC Sion abgestiegen – und nicht im provinziellen Wallis. Nicht, weil sie Snobs wären, sondern Montreux näher am Genfer Flughafen liegt und schon am Sonntag gegen West Bromwich Albion das nächste Spiel in der Premier League ansteht. «In Sion zu trainieren, wäre organisatorisch zu kompliziert gewesen», sagt Klopp.
Und da der FC Liverpool die Sechzehntelfinals der Europa League im Sack hat und es für ihn im Tourbillon nur noch um den Gruppensieg geht, fragt man sich, was sein neuer Trainer im Schild führt. Will er Kraft sparen und deshalb seine besten Spieler schonen? «Wir wollen in Sion auf jeden Fall gewinnen. Und wir wollen Gruppenerster bleiben», sagt Klopp. Dass er als Trainer von Borussia Dortmund im Januar dieses Jahres im Trainingscamp in Spanien gegen Sion gespielt und 1:0 gewonnen hat, daran mag er sich partout nicht erinnern. «Wirklich? Gegen Sion? Sorry …»
Es ist das 13. Pflichtspiel von Klopp als Trainer von Liverpool, mit drei Remis war er gestartet. In der Premier League hat er in sieben Partien elf Punkte geholt und sich vom zehnten auf den achten Rang verbessert; in der Europa League hat er zweimal gewonnen und einmal unentschieden gespielt; im Ligacup beide Partien für sich entschieden und den Halbfinal gegen Xherdan Shaqiris Stoke City erreicht. Es ist eine Zwischenbilanz, die sich durchaus sehen lassen kann.
Wäre am letzten Spieltag der herbe Dämpfer einer 0:2-Niederlage in Newcastle nicht gewesen, die Bäume in Liverpool würden bereits in den Himmel wachsen. Ob der Meisterzug jetzt abgefahren sei, wurde Klopp danach gefragt. «Ich habe niemals gesagt, dass wir ein Titelanwärter sind. Warum sollte ich jetzt also sagen, dass wir es nicht mehr sind?», stellte der Deutsche klar. Neun Punkte liegt Liverpool hinter Leader Leicester zurück, 25 Jahre sind es her, seit dem letzten Meistertitel, ein Jahrzehnt seit dem Gewinn der Champions League.
Schon bei seiner aufsehenerregenden Präsentation am 9. Oktober hatte Klopp erklärt, dass es vier Jahre dauern könne, bis er mit Liverpool einen Titel gewinne. Und wenn nicht, könne er ja noch immer als Trainer in die Schweiz gehen. Übel genommen wurde ihm diese Koketterie nicht … ausser in der Schweiz. «Da wurde ich falsch verstanden», sagte Klopp gestern, «ich liebe die Schweiz und bin mit Dortmund gefühlt tausendmal in Bad Ragaz im Trainingslager gewesen.»
Es sind einige Faktoren, die Klopp in Liverpool innert kürzester Zeit zu einem Popstar haben werden lassen. Angefangen bei der Sprache. Der 48-Jährige hat sich nicht gescheut, seine sehr ordentlichen Englischkenntnisse anzuwenden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und natürlich hat sein Berater Marc Kosicke ihm ein paar Parolen auf den Weg an die Pressekonferenz gegeben; wie jene, dass er aus «doubters» «believers» mache – aus Zweiflern Glaubende. Die Spieler jedenfalls hat er damit längst im Sack. «Dieser Mentalitätswandel ist der Schlüssel zu unserer positiven Entwicklung», sagt Verteidiger Dejan Lovren. «Man will für Klopp laufen, man will auf dem Rasen für ihn sterben», sagt Stürmer Adam Lallana.
Gut am River Mersey kommen auch die Selbstironie und sein beissender Humor an. In Anlehnung an den «special one» José Mourinho hatte er am ersten Tag den Spruch rausgehauen: «Ich kann keine Wunder bewirken, I’m the normal one» – und damit für Begeisterungsstürme gesorgt. Die Marketingabteilung der Reds liess sogleich T-Shirts damit drucken. Am letzten Sonntag dann, nachdem sein Spieler Alberto Moreno ein prächtiges Tor zum 1:1 geschossen hatte, welches zu Unrecht aberkannt worden war, sagte Klopp: «Wir waren nicht gut genug. Vielleicht hat es der Schiedsrichter-Assistent deshalb nicht für möglich gehalten, dass wir ein solches Weltklassetor schiessen könnten.»
Natürlich sind es aber auch in England vor allem Siege, die zählen, und die Art und Weise, wie sie erfochten werden. Nur ein paar Tage vor dem schwachen Newcastle-Spiel hatte Liverpool beim 6:1 im Ligacup in Southampton jenen kloppschen Vollgasfussball mit dem atemberaubenden Umschaltspiel zelebriert, vor dem sich nun auch schon Alex Ferguson zu fürchten scheint. Die Trainerlegende von Manchester United hat bei einer Podiumsdiskussion gesagt: «Klopp beunruhigt mich. Was wir bei United nicht wollen, ist, dass Liverpool vor uns steht.»
Er habe Klopp bei Seminaren kennen gelernt, sagte Ferguson. «Er wird mit seiner Persönlichkeit, seinem Engagement und seinem Wissen den Unterschied ausmachen. Man sieht bereits, dass es aufwärts geht.» Auswärtssiege gegen Manchester City (4:1!), Chelsea (3:1), Rubin Kasan (1:0) und Southampton (6:1!) belegen dies. Interessant: Unter Klopps Vorgänger Brendan Rodgers schoss Liverpool in elf Spielen 71-mal aufs Tor, unter Klopp nur 56-mal. Tore fielen unter Klopp aber 21, unter Rodgers nur 11. Psychologen würden sagen, Klopp habe die mentale Torsperre seiner Spieler beendet, ihnen Vertrauen geschenkt.
Liverpool ist aber noch kein Topteam. Grosse Stars gibt es keine und der beste Stürmer, Daniel Sturridge, ist meist verletzt. Dabei hatte Rodgers in drei Jahren für 31 neue Profis fast 400 Millionen Euro ausgegeben; Klopp sagte, er sei in England wohl der Einzige, der mehr ans Training als an Transfers glaube. 2014 war Rodgers zwar Ligazweiter geworden, damit hatte er aber die amerikanische Fenway Sports Group, die vor fünf Jahren für über 350 Millionen Euro die Mehrheit des Klubs übernahm, nicht zufrieden gestellt.
Mit dem Ausbau des Stadions für 190 Millionen Euro an der Anfield Road auf eine Kapazität von 54'000 Plätzen bis im Sommer 2016 wird kräftig in die Infrastruktur investiert, mit der Verpflichtung von Jürgen Klopp bis 2018 in die sportliche Führung. Klopp verdient gegen 10 Millionen Euro jährlich. Die Kloppomania (engl. Kloppmania) kennt keine Grenzen. «We believe» ist im Stadion auf Fahnen mit Klopps Konterfei geschrieben. Schals mit «Welcome to the Klopp revolution» verkaufen sich blendend. Jürgen Klopp hat für den grössten Liverpool-Hype gesorgt seit den Beatles.
Gut möglich, dass die Kloppomania noch eine ganze Weile anhält. Dass er in England als «full throttle manager» gilt, macht dem im Schwarzwald aufgewachsenen Schwaben nichts aus; full throttle bedeutet ja Vollgas und nicht Volltrottel. Die Zeitung «Liverpool Echo» hat geschrieben: «Klopp erinnert an Legende Bill Shankly.» Mehr an Ehrerbietung ist nicht möglich.