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Swiss-Ski Alpin-Direktor Walter Reusser spricht über Verletzungswelle

epaselect epaselect epa08093713 Hannes Reichelt of Austria is lifted on a helicopter after crashing during the Men's Downhill race at the FIS Alpine Skiing World Cup in Bormio, Italy, 28 December ...
Bilder, die niemand sehen möchte: Hannes Reichelt wird nach seinem Sturz in Bormio mit dem Helikopter abtransportiert.Bild: EPA
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Verletzungswelle im Skiweltcup: «Man sollte die Anzüge langsamer machen»

Schon 40 Verletze hat der Alpine Skiweltcup in diesem Winter zu beklagen. Athleten äussern Kritik am Weltverband FIS wegen schwierigen Bedingungen. Doch gibt es überhaupt Möglichkeiten, diese Verletzungen zu reduzieren? Walter Reusser, Alpin-Direktor von Swiss-Ski, im Interview.
15.02.2020, 13:2716.02.2020, 10:35
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Die Männer-Rennen in Saalbach-Hinterglemm waren für das Schweizer Team äusserst erfolgreich. Gleich drei Podestplätze holten die Swiss-Ski-Athleten gestern und vorgestern in Abfahrt und Super-G. Doch gleichzeitig haben sie auch etwas verloren: Ralph Weber stürzte in der Abfahrt und riss sich dabei das Innenband an.

Der 26-Jährige fällt rund sechs Wochen aus, weshalb er diese Saison nicht mehr zum Einsatz kommen wird. Weber ist der nächste Eintrag auf einer ultralangen Liste der verletzten Skicracks, zu denen auch grosse Namen wie Dominik Paris, Sofia Goggia, Viktoria Rebensburg oder Hannes Reichelt gehören, deren Saison allesamt vorzeitig beendet wurde.

Walter Reusser, Swiss-Ski Alpin director, poses to photographer during the Swiss-Ski federation press conference at the FIS Alpine Ski World Cup, in St. Moritz, Switzerland, Saturday, December 14, 201 ...
Walter Reusser ist seit diesem Herbst neuer Alpin-Direktor von Swiss-SkiBild: KEYSTONE

Bereits letztes Jahr häuften sich schwere Verletzungen. Ist das nur Zufall? Walter Reusser, Alpin-Direktor bei Swiss-Ski, erklärt, was dahinter steckt.

«Die Leistungsdichte führt zu mehr Verletzungen.»

Walter Reusser, was bedeutet eine Verletzung für einen Skiprofi?
Walter Reusser:
Jede Verletzung ist enorm schade, weil sie die Athleten weit zurückwerfen. Man denkt immer, eine Skikarriere dauere rund zehn Jahre, da sollten ein paar Monate Pause nicht so ein Problem sein. Aber de facto dauert sie dann nur zehn Mal vier Monate. Und wenn man dann eine oder zwei Saisons verliert, sind das schnell einmal 20 Prozent einer ganzen Karriere. Es ist für jeden Athleten und auch für uns als Mannschaft immer ein schwerer Schlag.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für die momentane Häufung der Zwischenfälle?
Der Sport entwickelt sich immer weiter. Dieses Jahr ist die Leistungsdichte in vielen Disziplinen so gross wie noch nie. Dadurch gibt es sehr viele Athleten, die sehr gut und schnell skifahren. Die Athleten sind gefordert, gewisse Risiken einzunehmen und so gibt es dann auch mehr Verletzungen.

Welche Rolle spielt das Wetter?
Das Verletzungsrisiko ist stark schneeabhängig, das konnte man über Jahre beobachten. Wenn es so wenig Schnee hat wie in diesem Winter, ist erstens das Gelände stärker ausgeprägt. Der Fahrer kämpft also mehr mit Wellen und Übergängen. Und zweitens wird Schnee, der so lange liegt und in jeder Nacht abstrahlen kann, immer schneller. Dadurch ist der Kurssetzer gezwungen, die Tore drehender zu stecken. Das wiederum erhöht dann den Druck auf die Gelenke und die Möglichkeit auf Fehler der Athleten.

Es geht aber nicht nur um die Rennen.
Klar! Wenn im Winter so oft schönes Wetter ist, haben die Fahrerinnen und Fahrer auch oft gute Trainingsbedingungen. Man geht dann auch eher ans Limit und dann kann es passieren, dass man über das Limit gerät. Wenn es immer schneit, kann man nicht oder weniger intensiv trainieren. Und dann gibt es, wenn man ihre Zahl zusammenzählt, auch weniger Verletzungen.

«Kreuz- und andere Bänder kann man nicht trainieren. Das ist schlicht nicht möglich.»

Beim Riesenslalom-Ski wechselte man zurück auf einen engeren Radius und eine kürzere Mindestlänge. Nun ist nicht mehr der Rücken sondern wieder das Knie das Problem. Hat das Material die Leistungsfähigkeit der Sportler überholt?
Ich denke nicht, dass man das so sagen kann. Auch vor zehn oder fünfzehn Jahren wurde in Adelboden in gewissen Kurven schon vier G gemessen. Das ist heute nicht anders. Was sich vielleicht verändert hat, ist der Zeitpunkt des absoluten Drucks. Der ist noch etwas kürzer geworden, weil die Athleten sich noch schneller bewegen.

Müsste man die Hersteller mehr in die Pflicht nehmen?
Je mehr man die Hersteller einschränkt, desto mehr fokussieren sie sich auf diese wenigen Details, die sie verbessern können. Das ist ja auch ihre Aufgabe. Deshalb ist es ein wenig ein Trugschluss zu denken, man könne auf die Art etwas bewirken. Wenn dann alle Hersteller an den gleichen Details forschen, gibt es noch schneller Fortschritte im Material. Man muss halt einfach auch sagen, dass man Kreuzbänder und andere Bänder nicht trainieren kann. Das ist schlicht nicht möglich. Diese Körperstellen werden eine Schwäche bleiben.

Marco Büchel forderte kürzlich in einem Interview unruhigere Pisten, damit das Tempo reduziert wird.
Das ist extrem abhängig von den Pisten. In technischen Disziplinen ist das schwierig. Wenn dort die Pisten zu unruhig sind, ist das gefährlich. Das haben wir dieses Jahr in Alta Badia gesehen. Denn die Athleten geben trotzdem Vollgas und können die Fahrt dann nicht kontrollieren, weil Schläge kommen, die sie nicht sehen. Bei Speed-Disziplinen kann man das Tempo so schon reduzieren, wie man es bei den Frauen in Bansko gesehen hat. Aber Stürze gab es da trotzdem.

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Aline Danioth verletzte sich beim Parallel-Riesenslalom in Sestriere. Diagnose: Kreuzbandriss.Bild: EPA

Wo könnte man Hebel ansetzen, um Verletzungen zu reduzieren?
Ich persönlich glaube, man sollte die Rennanzüge langsamer machen. Das Reglement dort ist seit Jahren gleich. Dabei wissen wir, dass ein guter oder schlechter Anzug schnell bis zu fünf km/h Differenz ausmachen kann. Es braucht also nicht Anzüge, die aussehen wie gewöhnliche Skijacken. Schon mit kleinen Veränderungen könnte man etwas bewirken. Wenn das Tempo dadurch geringer ist, kann man auch wieder geradere Kurse stecken und so den Druck auf die Knie verringern.

Warum passiert das dann nicht?
Es ist einfach eine gewisse Patt-Situation. Es spielen extrem viele Interessen mit. Ein Team hat vielleicht einen Vorteil beim Material und will den ausspielen. Dann gibt es Veranstalter, die möglichst attraktive Pisten bieten wollen, damit die Zuschauer kommen. Und eine andere Nation hat vielleicht starke Techniker und will darum möglichst anspruchsvolle Kurssetzungen. Man sollte das professionalisieren, damit Leute daran arbeiten, die die sportlichen Interessen vertreten und keine nationalen Vorlieben.

Zuletzt äusserten auch diverse Athleten Kritik an der FIS. Die Pistenverhältnisse seien zu unregelmässig und dadurch gefährlich. Auch Marco Odermatt gehörte zu diesen Stimmen. Wie oft beklagen sich Ihre eigenen Athleten bei Ihnen?
Wir diskutieren das regelmässig und gut. Beispielsweise am Donnerstag in Saalbach hatten wir noch ein kurzes Training für den obersten Streckenteil, aber die gesamte Strecke an einem Stück fuhr vor der Abfahrt keiner. Da waren die Athleten schon kritisch – positiv kritisch. Es ist ein wichtiger Dialog. Auch dass die Fahrer wissen, dass die Trainer sie nicht unnötigen Gefahren aussetzen.

Die Liechtensteinerin Tina Weirather verzichtete zuletzt kurzfristig auf die Abfahrt in Garmisch, obwohl sie gesund war. Marco Odermatt tat das gleiche in Saalbach. Ein schlechtes Zeichen für den Skisport, wenn sich die Athleten nicht mehr auf die Piste getrauen?
Zu Tina Weirathers Situation kann ich mich nicht äussern. Marco Odermatt kommt aus einer Verletzung zurück, er hat seit Mitte Dezember kaum mehr Abfahrt trainiert. Mit dem Fortschritt des Rennens wurde es so dunkel, dass wir uns gegen einen Start entschieden haben. Selbst mit einer guten Fahrt wäre er vielleicht höchstens noch auf Rang 25 gefahren. Wir konnten uns das glücklicherweise durch die gute Leistung des ganzen Teams leisten. Marco wäre bei unserer Strategie ein später Trumpf gewesen, falls die hinteren Startnummern plötzlich viel bessere Verhältnisse gehabt hätten.

«Wenn der Airbag obligatorisch würde, hätten plötzlich ein oder zwei Anzug-Ausrüster ein Monopol.»

Sind die FIS-Renndirektoren überfordert? Sie stehen unter grossem Druck, dass möglichst viele Rennen durchgeführt werden.
Es ist eine Gratwanderung. Meiner persönlichen Empfindung nach werden die Renndirektoren zu wenig unterstützt. Es reicht in den meisten Fällen nicht, bei den Damen und den Herren nur je einen Pistenchef zu haben, auch wenn bei technischen und Speed-Disziplinen unterschieden wird. Das ist unrealistisch.

Ist das bei jedem Rennen der Fall?
Nein. In Adelboden hat die FIS beispielsweise praktisch nichts zu tun, weil Pistenchef Hans Pieren sein Metier derart gut im Griff hat. Aber an anderen Orten ist der Weltverband unglaublich gefordert, weil das lokale Organisationskommitee unterstützen werden muss. Da werden dann vielleicht ab und an Fehler gemacht, die man in wenigen Tagen nur schwer korrigieren kann. Mit einem professionelles Team, das diese Veranstalter unterstützt, könnte man da sicher noch einiges verbessern.

epa08119014 Spectators in the finish area during the first run of the men's giant slalom raceat the FIS Alpine Skiing World Cup in Adelboden, Switzerland, 11 January 2020. EPA/PETER KLAUNZER
Skifest in Adelboden. Auch wenn es wenig Schnee hat, muss sich die FIS hier kaum Sorgen um die Piste machen.Bild: EPA

Warum sind Schutzmittel wie Airbags oder schnittfeste Anzüge noch nicht obligatorisch?
Wenn der Airbag obligatorisch würde, hätten plötzlich ein oder zwei Anzug-Ausrüster ein Monopol. Das will man verhindern. Bei Swiss Ski verwenden wir in den technischen Disziplinen mittlerweile Anzüge, die schnittfest sind. Die Entscheidung zum Airbag überlassen wird den Athletinnen und Athleten.

«Die Arbeitsgruppen bei der FIS sind gesteuert von nationalen Interessen. Das ist falsch.»

Wie gross ist der Einfluss der nationalen Verbände bei der FIS in diesen Fragen?
Es gibt spezielle Arbeitsgruppen für alle Themen – Sicherheit, Pistenbeschaffenheit, Kurssetzung, Material oder Rennkalender. Da sind die Nationen vertreten. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das der richtige Weg ist.

Sondern?
So hat man natürlich immer die nationalen Interessen drin. Wir sollten weniger von den nationalen Interessen ausgehen und mehr die Interessen des gesamten Sports in den Vordergrund stellen. Es ist sicher richtig, dass viel Fachkompetenz in diesen Gruppen ist. Aber sie sind dann stark gesteuert, weil versucht wird, für den nationalen Verband einen Vorteil herauszuholen. Das ist falsch.

Es verlangsamt dann auch die Prozesse, wenn es immer hin und her geht.
Das liegt auch etwas in der Natur der Sache. Wenn man etwas Neues angeht, hat man auch noch keine Referenzen. Dementsprechend trifft man manchmal auch Entscheidungen, die wieder rückgängig gemacht werden müssen, weil man einige Jahre später neue Erkenntnisse hat.

Aber Sie glauben auch, dass es Veränderungen braucht?
Natürlich müssen wir immer ganz genau hinschauen. Es braucht auch eine stetige Weiterentwicklung. Das wird ein grosser Kraftakt, bei dem wir definieren, wie man diesen Sport richtig organisiert und durchführt. Wir müssen neben dem Material auch den Kalender anschauen, wie und wo die Rennen durchgeführt werden, welche Vorgaben an die Organisatoren gestellt werden. Eine neue Strukturierung von gewissen Prozessen ist wichtig.

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