Die Regeln in Norwegen und Schweden sind unerbittlich. Weil Ingvild Flugstad-Östberg und Frida Karlsson, beide WM-Medaillengewinnerinnen im Langlauf, beim Gesundheitstest Defizite im Energiehaushalt aufwiesen, wurden sie mit Schutzsperren belegt. Auch im Schweizer Sport kennt man Fälle von Essstörungen und Magersucht. Der angesehene Sportarzt German Clénin sagt, dass das Thema noch zu wenig offen angesprochen wird.
In Norwegen und Schweden wurde je eine Top-Langläuferin gesperrt, weil sie Teile des Gesundheitschecks nicht bestanden hat. Was muss man sich unter einem Gesundheitscheck vorstellen?
German Clénin: Wie er in Skandinavien abläuft, weiss ich im Detail nicht. In der Schweiz gibt es eine strenge Empfehlung, dass sich alle Athleten von nationalen Elite- und Juniorenkader einmal pro Jahr einer sportärztlichen Untersuchung unterziehen. Dazu gehören ein Blick auf Blutdruck, Puls, Grösse und Gewicht, ein EKG sowie der Blutuntersuch. Zusätzlich füllen die Sportler einen Fragebogen aus. Dies ergibt ein Gesamtbild. Aus dieser Bestandesaufnahme entstehen Empfehlungen.
Mit welcher Überlegung wird auf das Gewicht des Sportlers geschaut?
Es gibt Sportarten, in denen das Gewicht eine mitentscheidende Rolle spielt. Zum Beispiel im Ausdauersport oder bei Disziplinen mit Gewichtskategorien. Ein Bergläufer darf nicht schwer sein, wenn er Erfolg haben will. Aber es ist die Aufgabe der Sportmediziner und auch der Sportverbände, darauf zu achten, dass das Optimieren des Gewichts nicht grenzenlos ist.
Wie beurteilt man, ob eine Sportlerin oder ein Sportler noch in der Toleranz liegt?
Ein Messpunkt ist der Body Mass Index. Dort gibt es eine Bandbreite, die gegen unten bei 18,5 beginnt. Aber diese Zahl für sich alleine ist nicht die ganze Wahrheit. Bei 16-Jährigen, die in gewissen Sportarten längst beim Leistungssport angekommen sind, ist der BMI bei weitem noch nicht so stabil wie bei einem 25-Jährigen. Deshalb wird auch auf die sogenannte Perzentilenkurve geschaut, die den Schwankungen des BMI Rechnung trägt. Ein weiterer Faktor ist, wenn bei Mädchen bei hoher Trainingsbelastung die Regelblutung ausbleibt. Bei der Kombination knapp im Gewicht und keine Menstruation leuchten die Alarmlampen auf.
Ist es also kein Zufall, dass es in Norwegen und Schweden zwei Frauen getroffen hat?
Lange sprach man von der «Female Athlete Triad», einem Krankheitsbild, das nur Frauen betrifft. Es ist die ungute Kombination von ausbleibender Menstruation, Essstörung und Knochenschwund. Bei den Frauen ist durch die ausbleibende Menstruation das Östrogen weg. Und Östrogen ist enorm wichtig für den Knochenaufbau. Diesen Nachteil haben Männer nicht. Doch das Problem von Energieunterversorgung, Essstörung und Osteoporose kann auch bei ihnen vorkommen.
Sind Essstörungen im Sport häufig?
Es ist schwierig, den Begriff «häufig» zu definieren. Eine andere Frage ist: Wie weit zieht der Spitzensport Menschen mit Neigung zur Essstörung an? Denn diese Menschen sind strukturiert, clever, sie können aufs Tempo drücken, sich bis zum Letzten fordern. Sie begreifen schnell, dass Gewichtskontrolle eine Frage von Energieaufnahme und Energieverbrauch ist. Interessanterweise sind Menschen mit Essstörungen eher harmoniebedürftig, aber sie verlangen von sich im Essverhalten pickelhart alles ab. Genau solche Bedingungen muss man erfüllen können, um im Spitzensport erfolgreich zu sein.
Der Fall der Norwegerin Ingvild Flugstad-Östberg zeigt auch, wie heikel der Spagat zwischen Persönlichkeitsschutz und Information der Öffentlichkeit ist. Man darf nicht wissen, was sie hat, weiss es aber trotzdem.
Deshalb tun wir uns wohl grundsätzlich so schwer, offen darüber zu sprechen. Es ist ein heikles Thema, das sofort sehr persönlich wird. Die Diagnose ist auch in gewissen Situationen nicht eindeutig messbar. Ich empfinde es deshalb als schwierig, eine Sportlerin einfach so aus dem Wettkampfgeschehen rauszunehmen. Was wir in der Schweiz schon gemacht haben, ist der Athletin gewisse Auflagen zu machen. Wichtig ist, dass man mit den Betroffenen und bei Jugendlichen häufig auch mit den Eltern Klartext redet.
Sie sagen, dass es oft Jugendliche betrifft. Die norwegische Langläuferin Ingvild Flugstad-Östberg ist 29 Jahre alt. Wieso kann eine Sportlerin in diesem Alter eine solche Krankheit entwickeln?
Man muss sich die Zahlen dazu anschauen. In 60 Prozent der Fälle wird die Krankheit «Female Athlete Triad» chronisch, in bis zu 10 Prozent kann sie tödlich enden. Vermutlich wurde eine Athletin in diesem Alter schon früher damit konfrontiert.
In der Schweiz kennt man diese Form von Test nur im Orientierungslauf. Wieso?
Das Thema wurde 2010 aktuell, als bei rund der Hälfte der Juniorinnen die Menstruation ausblieb. Indem wir das Thema bei der Untersuchung frühzeitig auf den Tisch legen, sind wir der Konsequenz, jemanden aus dem Wettkampf auszuschliessen, einen Schritt voraus.
Wieso betraf das Thema gleich mehrere Athletinnen?
Wir Mediziner sehen es nicht so gerne, wenn eine überragende Athletin in einer Sportart sehr, sehr leicht ist. Dann findet dieses angebliche Erfolgsmodell schnell Nachahmerinnen. Wenn man eine extrem optimierte Ausnahmeathletin einfach kopieren will, ist das ohnehin der falsche Ansatz.
Welche Massnahmen helfen?
Man muss die Sportler für die Einsicht gewinnen, dass ihnen essen gut tut. Wenn man eine Situation von Untergewicht antrifft, kommt ein Sportmediziner damit schon weit. Wenn es aber so richtig losgeht mit der Essstörung, dann braucht es zur Hilfe ein Trio: Ein Sportmediziner, ein Ernährungsberater und ein Psychologe.
Derzeit ist eine Arbeitsgruppe daran, ein vergleichbares Konzept für die Leichtathletik einzuführen. Werden künftig Schweizer Top-Leichtathletinnen für Wettkämpfe gesperrt?
Das glaube ich nicht. Die Betroffenen sperren sich oft selber, weil ihr Verhalten häufig sogenannte Stressfrakturen der Knochen auslöst. Essstörungen sind ein Thema, das den Spitzensport auch in Zukunft beschäftigen wird. Man hätte in der Schweizer Leichtathletik schon früher damit anfangen können, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend, dass in den Mittel- und Langstreckendisziplinen die körperlichen Voraussetzungen eher noch mehr optimiert werden als im OL. Nun ist es wichtig, dass die Kaderärzte ein Tool in die Finger bekommen, mit dem sie arbeiten können.
Also keine Sperren wie in Norwegen?
Ich sehe auch ein juristisches Problem. Wir haben eine Verantwortung zur Information, aber letztlich können wir ja niemanden zur Gesundheit zwingen. Ein findiger Jurist würde eine Sperre wohl anfechten.
Gibt es auch Widerstände?
Konkret in der Leichtathletik nicht. Ich stelle aber in Teilen des Schweizer Sports ein gewisses Unverständnis fest. Nicht alle Verbände sind von den sportärztlichen Untersuchungen angetan. Sie merken vielleicht, dass die Sportmediziner etwas gar fest auf die Gesundheitsaspekte schauen. Und es gibt Verbände, welche diese Untersuchungen ablehnen. Ein wenig nach dem Motto: Die Athleten gehören uns.
In den USA gibt es in der Leichtathletik das Beispiel von Trainer Alberto Salazar. Ihm werfen ehemalige Athletinnen vor, er habe sie dazu gedrängt, leichter zu werden. Wie nehmen Sie die Macht der Trainer wahr?
Das Thema ist sehr komplex. Zuerst einmal muss man feststellen, dass Leistungssport nichts mit Romantik zu tun hat. Ein Leistungssportler weiss, dass er zum Erreichen seiner Ziele viel investieren und auch etwas dafür opfern muss. Das ist auch dem Sportmediziner klar. Diesen Bonus geben wir. Wenn ein Athlet verletzt ist, dann geht es ihm nicht nur darum, wann er wieder gesund ist, sondern ebenso, wann er wieder mit dem Training fortfahren kann.
Aber punkto Gesundheit muss es Grenzen geben!
Ein Dilemma ist, dass der Trainer davon profitiert, wenn sein Athlet erfolgreich ist. Der Leistungssport kreiert solche Abhängigkeitssituationen, wo psychischer und körperlicher Druck bis hin zum Missbrauch eine Rolle spielen kann. Manchmal entsteht ein gesundheitliches Problem aber auch im Kopf des Sportlers. Eine Störung des Körperbilds passiert nicht im Kopf des Trainers, sondern im Kopf der Athletin. Ich nehme die Trainer im OL sehr reflektiert war. Indem sie das Thema ansprechen, wird der Dialog offener und man macht sich auch eher Sorgen um die Gesundheit. Problematisch wird es dort, wo es nur noch um Leistungsdenken geht. Und davor sind die Schweizer Sportverbände nicht gefeit. Es gibt einige problematische Beispiele und typischerweise sind es jene, die keine Sportärzte in ihr System reinlassen.
Als Sportarzt stehen Sie bei einem Missbrauch mit in der Verantwortung?
Ja und zu dieser Verantwortung stehen wir. Auch Swiss Olympic sagt, ihr Sportmediziner seid unsere Vertrauenspersonen. Wir wollen, dass ihr hinschaut. Aber man muss uns auch den Zugang zu den Athleten gewähren. Das ist nicht überall der Fall.