Es ist der nächste Härtetest für das erstarkte YB. Am Sonntag um 16.30 Uhr gastieren die Berner beim FCB. Fünf Jahre lang hat Trainer Raphael Wicky in Basel gearbeitet. Nun soll er die entthronten Berner wieder zum Meistertitel führen. Im Interview spricht der 45-jährige Wicky über den Titelkampf, seine Zeit in den USA und die schwierigen Tage auf der Intensivstation im Kampf um das Leben seines Vaters.
Vor Saisonstart galt YB als Favorit auf den Meistertitel. Drei Wochen später müssen wir schon korrigieren und sagen: YB ist der klare Favorit auf den Titel – einverstanden?
Raphael Wicky: Das geht mir zu schnell. Wir wollen Meister werden, ja. Wir sind gut gestartet, ja. Aber trotzdem schadet es bestimmt nicht, Ruhe zu bewahren. Sie dürfen gerne vorschnell ein Fazit ziehen – wir selbst tun das ganz bestimmt nicht. Wir haben die letzte Saison nicht vergessen. Ich weiss nicht, in wie vielen Ligen der Vorjahresdritte als klarer Favorit auf den Titel bezeichnet wird ...
Am Sonntag kehren Sie erstmals als Trainer in den St.Jakob-Park zurück, seit Sie 2018 in Basel entlassen wurden. Wie speziell ist das?
Es ist sicher kein Spiel wie jedes andere. Ich habe fünf Jahre in Basel gelebt, das ist eine lange Zeit in einem Fussballer-Leben. Ich habe viele tolle Leute kennengelernt, viele schöne Momente erlebt, sei es in den vier Jahren als Nachwuchstrainer oder in jenem Jahr bei den Profis. Darum ist es speziell, aber nicht, weil ich mir sage: «Jetzt ist es Zeit für eine Revanche!» So funktioniere ich nicht. Ich will den Match gewinnen, aber ich muss niemandem etwas beweisen.
In einem Interview mit der «Berner Zeitung» wurden Sie gefragt, ob der Job als YB-Trainer Ihre letzte Chance sei. Fühlten Sie sich in der Schweiz schon abgeschrieben, obwohl Sie erst ein einziges Jahr beim FC Basel als Profi-Trainer waren?
Nein, dieses Gefühl habe ich überhaupt nicht. Die Frage kam auf, weil ich vor einiger Zeit einmal sagte: «Jeder Trainer hat zwei Patronen in seiner Laufbahn. Wenn die erste verschossen ist, bekommt man noch einmal eine zweite.»
Würden Sie diese Aussage heute nicht mehr machen?
Nein. Ich würde wohl etwas weniger verallgemeinern. Es ist schon Fakt, dass man nicht unendlich viele Chancen erhält. Aber die entscheidende Frage ist: Was holt man aus den vorhandenen Möglichkeiten heraus? Ich sehe meine Zeit beim FCB positiv. Wir qualifizierten uns für den Champions-League-Achtelfinal und wurden Zweiter in der Meisterschaft.
In der Schweiz hat man Sie an der Seitenlinie seit 2018 nicht mehr gesehen. Wie haben Sie sich als Trainer weiterentwickelt?
Der Trainerjob lebt auch von der Erfahrung. Es gibt nicht nur viele gute junge Trainer. Sondern eben auch eine Menge sehr guter älterer Trainer, die 20 Jahre oder noch mehr im Rucksack haben und dadurch jede Menge gelernt haben. Die drei Jahre in Amerika, zuerst als U17-Nationaltrainer und dann in der MLS bei Chicago, haben mir sehr viel gegeben. Ich konnte auch viel aus Begegnungen mit anderen Trainern mitnehmen, gerade was Menschenführung und Teamführung angeht. Aber es gibt nicht dieses eine Ding, das ich nun viel besser könnte. Mein Rucksack ist im Gesamtpaket einfach viel voller. Ich bin zwar noch der gleiche Mensch, aber als Trainer viel weiter.
Aus der Zeit in Basel halten sich die Erzählungen, wonach Sie Mühe hatten, harte Entscheidungen zu fällen.
Ich habe das auch schon zu hören bekommen. Aber ein konkretes Beispiel konnte mir noch niemand nennen. Vielleicht kommt das daher, dass ich versuche, mich – ohne gleich Kumpel zu sein – auch etwas in die Spieler hineinzuversetzen und Empathie zu zeigen. Ich habe viele Situationen ja selbst erlebt in meiner Karriere. Und ich bin definitiv kein Typ, der den ganzen Tag herumschreit. Natürlich habe ich mich auch in der Thematik weiterentwickelt, wie es ist, unangenehme Gespräche zu führen. Aber nicht, weil ich dem früher aus dem Weg gegangen wäre oder deswegen schlaflose Nächte gehabt hätte, sondern weil man diesen Situationen immer wieder begegnet. Gespräche sind ein wesentlicher Teil der Trainerarbeit.
Ist es für Sie als neuer Trainer ein Vorteil, dass YB im letzten Jahr den Meistertitel verlor?
Für mich spielt das keine Rolle. Ich gehe meine Arbeit genau gleich an. Ich will nicht zurückschauen. Ich bin hergekommen und habe ein Team angetroffen, das lebt, das sehr hart arbeitet und Erfolge feiern will. Natürlich gefällt es niemandem, auf der Bank zu sitzen. Aber ich sehe, wie jeder bereit ist, alles für die Gemeinschaft zu investieren.
Beim 4:0 zum Saisonstart gegen Meister Zürich setzte YB ein kräftiges Zeichen. Wie schätzen Sie nun die Bedeutung des Gastspiels in Basel ein?
Ich würde nicht so weit gehen, das Spiel als wegweisend zu betrachten. Es ist eine wichtige und schwierige Partie, und schliesslich treffen auch die beiden erfolgreichsten Teams der letzten zehn Jahre aufeinander, aber die Saison geht sehr lange, und wir spielen noch häufig gegen Basel.
Im Frühjahr wechselte Xherdan Shaqiri in die Major League Soccer zu Ihrem Ex-Klub Chicago. Sie haben die Liga als Trainer hautnah erlebt – wie gut ist sie wirklich?
Die MLS ist eine gute und schwierige Liga – sie ist einfach anders als die Ligen in Europa. Erstens ist die Ausgeglichenheit viel grösser, weil jedes Team gleich viel Geld für die Löhne ausgeben darf. Das führt dazu, dass das Gefälle bei den meisten Teams gross ist. Die Vereine in Europa sind breiter aufgestellt, der Fussball ist viel mehr von Taktik geprägt hier. In Amerika ist es sehr intensiv, es geht hin und her, und es ist mehr Platz vorhanden. Dazu kommt, dass die Spiele unter ganz anderen Bedingungen stattfinden. Fünf Stunden Flug bis zum Auswärtsspiel auf 2000 Metern Höhe. Dann das nächste Spiel in der Wüste. Ein anderes auf fast gefrorenem Rasen in Montreal. Der grösste Unterschied ist, dass es keinen Absteiger gibt, niemand hat das Messer am Hals nach ein paar Niederlagen. Zudem gibt es unter den Fans kaum direkte Rivalität oder Verbissenheit.
Was bedeutet das für Shaqiri für die WM? Die Frage ist doch: Wo hätte er sonst gespielt?
Wichtig ist, dass er regelmässig zum Einsatz kommt. Das ist in Chicago der Fall. Ich denke, jeder Nationaltrainer ist zufrieden, wenn seine wichtigsten Spieler bis in den November im Rhythmus bleiben.
Ende 2021 wurde Ihr Vertrag in Chicago nach zwei Saisons nicht verlängert. Mussten Sie sich nach drei Jahren des Lebens in den USA zuerst wieder an die Schweiz gewöhnen?
Das wäre übertrieben. Und auch für meine Frau Laura, die aus Kalifornien stammt, ist es nicht das erste Mal in der Schweiz. Sie war bereits ein Jahr in Basel bei mir.
Gibt es Dinge aus Amerika, die Sie in der Schweiz vermissen?
Sagen wir es so: Ich geniesse das Leben in Amerika sehr, die Positivität der Leute, die Freundlichkeit, auch die Sportmentalität. Aber vermissen? Das ist ein grosses Wort. Das war umgekehrt schon eher der Fall, wenn ich lange weg war ohne meine Familie und Freunde.
Stichwort Familie: Ihrem Vater ging es nach einer Herzoperation mit Komplikationen sehr schlecht. Hat er sich mittlerweile erholt?
Es geht ihm um einiges besser, gerade wenn ich es vergleiche mit dem Ende des letzten Jahres. Er konnte sogar schon Spiele von uns im Stadion verfolgen. Mein Papa war insgesamt fast acht Monate im Spital, davon viereinhalb Monate auf der Intensivstation, es war für alle eine intensive Zeit.
Wie haben Sie diese schwierige Zeit erlebt?
Ich habe seit jeher ein sehr nahes Verhältnis zu meiner Familie. Entsprechend schwierig war es, so weit weg zu sein in so einer akuten Phase. Zu Hause ging es um Leben und Tod – aber ich konnte nur wenig tun, weil ich in Chicago war. Ich bin unendlich dankbar für die Menschlichkeit, die ich von der Führung in Chicago erleben durfte. Sie stellten es mir frei, nach Hause zu fliegen, um für meinen Vater da zu sein. Das habe ich dann auch getan. Der Fussball ist mein Leben, meine Leidenschaft, mein Job, seit 30 Jahren schon, aber in solchen Momenten wird einem bewusst, dass es wichtigere Dinge gibt.
YB kann sich glücklich schätzen, dass die ihn als Trainer haben dürfen.