Die Berliner spielten vor dem Unterbruch in ihrer ersten Saison in der höchsten Spielklasse eine ausgezeichnete Rolle und stehen neun Runden vor Schluss mit acht Punkten Vorsprung auf den Barrage-Platz auf Rang 11.
Am Mittwoch musste Fischer das Trainingslager Unions aus persönlichen Gründen verlassen. Der 54-jährige Zürcher kehrt nach dem Tod seines Schwiegervaters heute aus der Schweiz nach Berlin zurück, wird die Mannschaft aber erst nach zwei negativen Coronavirus-Tests wieder betreuen. Morgen gegen Bayern München wird er von seinem Co-Trainer Markus Hoffmann vertreten.
Noch vor seiner Reise in die Schweiz sprach Fischer im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA über den Neustart, die Corona-Pandemie und warum er sich gefreut hat, wieder zum Coiffeur gehen zu können.
Urs Fischer, nach zwei Monaten Pause wird der Spielbetrieb in der Bundesliga wieder aufgenommen – zwar ohne Zuschauer, aber wohl besser als nichts?
Urs Fischer: Wir sind in einer privilegierten Situation, weil wir die ersten im Sport sind, die wieder loslegen können. Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft gab es ja erste Lockerungen. Es ist ein Schritt zurück in die Normalität. Aber die Situation ist nicht ganz einfach, weil sie ungewohnt ist.
Vor einer Woche wurden beim Zweitligisten Dynamo Dresden Spieler positiv auf das Coronavirus getestet, worauf die ganze Mannschaft in eine zweiwöchige Quarantäne musste. Gab es Bedenken Ihrerseits, die Saison wieder zu starten?
Für mich ist entscheidend, dass man sich auf die Situation einstellt. Es wird Rückschläge geben, wie der Fall von Dynamo Dresden zeigt. 14 Tage ohne Mannschaftstraining und nachher gleich wieder bereit sein für ein Spiel – nicht einfach. Ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen würde. Aber man muss die Situation annehmen und das Beste daraus machen.
Befürchten Sie nicht, dass die Saison irgendwann doch abgebrochen werden könnte?
Für uns geht es am Sonntag gegen Bayern München los, dann folgt eine Woche später das Derby gegen Hertha Berlin. Mit anderen Szenarien beschäftige ich mich derzeit nicht.
Das Heimspiel gegen den Leader und Rekordmeister Bayern München haben Sie sich zur Beginn der Saison sicherlich anders vorgestellt?
Nicht nur ich, sondern der ganze Verein. In erster Linie spielen wir ja Fussball für unsere Fans. Da sind Emotionen drin, es gibt Diskussion während und nach dem Spiel, von diesen lebt der Fussball. Nun wird es anders sein. Ich habe noch nie ein Geisterspiel erlebt. Es ist eine aussergewöhnliche Situation, schön oder gut ist sie natürlich nicht. Aber wir dürfen uns nicht herausnehmen, auch viele andere Betriebe und Branchen haben zu kämpfen.
Es gibt kritische Stimmen, die sagen, dass der Fussball eine Sonderstellung geniesst. Wie sehen Sie das?
Es gibt verschiedene Sichtweisen, auch negative, aber ich muss die ja nicht teilen. Ich glaube nicht, dass der Fussball Privilegien besitzt. Die Leute, die in der Verantwortung stehen, haben ein Konzept entwickelt, das den Richtlinien entspricht, damit der Fussball wieder loslegen kann. Das gab es in anderen Bereichen ja auch, jede Branche hat es probiert.
Union Berlin bereitet sich im niedersächsischen Barsinghausen auf den Wiederbeginn vor. Was ist anders als in sonstigen Trainingslagern?
Wir sind die einzigen Gäste in diesem Hotel, was nicht alltäglich ist. Eine Gesichtsmaske ist ein ständiger Begleiter, weil es Situationen gibt, in denen man diese tragen muss. Im Training müssen die Spieler ausser bei Spielformen mit Zweikämpfen gebührend Abstand halten, auch bei einer Ansprache sind die Spieler viel weiter voneinander entfernt als gewohnt. An gewisse Dinge hat man sich nach einigen Wochen zwar gewöhnt, die Situation bleibt aber aussergewöhnlich.
Ist es schwierig, unter diesen Umständen den Fokus auf das Sportliche zu legen?
Es muss unser Anspruch sein, es zu probieren. Ob uns das gelingt, ist schwierig zu sagen. Gerade wir in unserem Stadion haben immer wieder vom zwölften Mann profitiert. Eine solche Situation war noch nie da, man hat keine Erfahrungswerte. Uns war aber schon vor dem Unterbruch klar, dass 30 Punkte nicht zum Ligaerhalt reichen werden.
Union Berlin hat in seinem ersten Jahr in der Bundesliga bis zum Abbruch eine nahezu perfekte Saison gespielt. War deswegen der Unterbruch besonders frustrierend?
Mit dem Schicksal hadern bringt mir nichts. Wir haben eine neue Situation und die gilt es so gut wie möglich anzunehmen. Bei mir ist das Glas halb voll und nicht halb leer. Entscheidend für mich ist, dass wir alles versuchen, damit es am Ende positiv herauskommt.
Sie sind also froh, dass es wieder losgeht?
Wir kehren in kleinen Schritten in die Normalität zurück, das löst doch bei allen positive Gefühle aus – nicht nur im Fussball. Ich hatte mich am Montag vor einer Woche unheimlich gefreut, wieder zum Coiffeur zu gehen. Etwas, das man sonst für selbstverständlich hält, löste bei mir ein unglaublich gutes Gefühl aus.
Ein Grund für die Fortsetzung der Meisterschaft sind die TV-Gelder. Wie wichtig sind diese für Union Berlin?
Darüber müssten andere Personen sich äussern, aber ich bekam natürlich einiges mit. Das Geld ist überlebenswichtig. Praktisch alle Klubs nehmen Lohneinbussen in Kauf, man versucht, solidarisch zu sein. Aber nicht nur der Fussball, auch alle anderen Geschäftsbereiche versuchen, das Bestmögliche zu machen, damit es irgendwann weitergehen kann.
Schon kurz nach Beginn des Lockdowns gab der Verein bekannt, dass Spieler und Staff sich zu einem Lohnverzicht bereit erklärt haben. Wie gross ist dieser Verzicht?
Das spielt keine Rolle. Der Verein hat eine super Regelung gemacht. Entscheidend ist, dass wir solidarisch sind und verzichtet haben. Es ging darum, ein Zeichen zu setzen.
Wo haben Sie den Lockdown verbracht?
In der ersten Woche reiste ich mit dem Auto in die Schweiz zurück, weil einige Flüge bereits gestrichen waren und ich mobil sein wollte. Während der «Homeoffice»-Zeit reiste ich für Gespräche und Trainingspläne noch einmal für drei Tage nach Berlin, ehe ich für die Wiederaufnahme des Kleingruppentrainings definitiv zurückkehrte.
Nach der Wiederaufnahme des Trainings in Kleingruppen am 6. April zeigten Sie sich nicht zufrieden mit dem Fitnessstand der Spieler.
Ich hatte Verständnis dafür. Nach einer dreiwöchigen Quarantäne-Zeit kann man nicht erwarten, dass die Spieler gleich fit zurückkehren wie nach den Ferien, weil sie sich ja nur sehr eingeschränkt bewegen konnten. Überrascht war ich eher, wie schnell man sein Leistungspotenzial einbüssen kann – und dies, obwohl die Spieler das ihnen aufgetragene Programm gut umgesetzt haben.
Gab es Unterschiede während des Lockdowns zwischen Deutschland und der Schweiz?
Im Grossen und Ganzen waren die Massnahmen identisch. Kleine Unterschiede gab es wie die Gruppengrösse, die hier auf zwei Personen beschränkt war. Derzeit herrscht in Berlin Maskenpflicht, was ja in der Schweiz nicht der Fall ist.
Stellten Sie sich in diesen Wochen auch einmal die Sinnfrage?
Das, was passiert ist, gibt sicher Anstoss zum Nachdenken. Ein Beispiel ist die Technik, von der wir profitieren. Ich habe vor kurzem ein Videointerview gemacht. Muss man jedes Mal nach Berlin fliegen, um mit mir ein Interview zu führen? Oder geht es auch via Laptop? Man hinterfragt, ob das eine oder andere noch zeitgemäss ist und Sinn macht.
Gibt es weitere positive Aspekte, die Sie aus dem Lockdown mitnehmen?
Die weltweite Solidarität ist bemerkenswert oder das, was die Leute im Gesundheitsbereich geleistet haben. Oder wie man versucht, mit Hochdruck Medikamente und einen Impfstoff zu entwickeln. Es gibt viele Sachen, die erwähnt werden könnten. (abu/sda)
„Ich glaube nicht, dass der Fussball Privilegien besitzt.“
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