«Ich bin schwul», gestand der Bündner Kranzschwinger Curdin Orlik gegenüber dem «Magazin» des «Tages Anzeiger». Viele Konkurrenten reagierten mit grossem Verständnis auf das Outing des 27-Jährigen. Was aber sagt Stefan Strebel, der künftig mächtigste Funktionär im Eidgenössischen Schwingerverband? Eine Woche vor seiner Wahl an der Abgeordnetenversammlung in Pratteln gelten die Schlagzeilen nicht Strebels durchaus brisanten Reformvorschlägen, sondern der sexuellen Orientierung von Orlik.
Ein Thema gibt derzeit im Schwingen zu reden: das Outing von Curdin Orlik. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie davon erfuhren?
Stefan Strebel: Zum Outing darf es keine zwei Ansichten geben. Zur Homosexualität zu stehen, ist für mich heute etwas ganz Normales, das in der Gesellschaft keine Emotionen auslösen sollte. Ich habe Nulltoleranz gegenüber Leuten, die anders denken. Es ist ein mutiger Schritt. Vor allem, weil Curdin Orlik aus einem sehr katholischen Umfeld stammt.
Hat es Sie erstaunt, dass ausgerechnet ein Schwinger der erste Aktive im Schweizer Spitzensport ist, der sich zu einem solchen Schritt traut?
Nein, überhaupt nicht. Es sollte nichts mit der Sportart zu tun haben. Es muss in der heutigen Zeit normal sein.
Wie nahmen Sie die ersten Reaktionen wahr?
Viele fragten mich, ob ich davon wusste, was nicht der Fall war. Ich habe es auch nicht vermutet.
Rechnen Sie nicht damit, dass es unter vorgehaltener Hand zu negativen Äusserungen an den Schwingfesten kommt?
Ich habe bisher ausschliesslich positive Reaktionen erhalten und ich hätte null Verständnis für negative Rückmeldungen. Wer das macht, passt nicht in die heutige Zeit.
Selbst Curdins Vater Paul Orlik gibt aber zu, dass er sich schwer mit dem Thema getan hat. Und er wird sicher nicht der Einzige in der Schwingerszene sein?
Ich kann mir gut vorstellen, dass Paul in seinem Glauben Mühe hatte, damit umzugehen. Denn das sind im Bereich des Glaubens noch immer sehr tiefgründige Themen. Hier liegt wohl auch der Mut, den es von Curdin zu diesem Schritt brauchte.
Sie denken, es war schwieriger für ihn, sich als Katholik denn als Schwinger zu outen?
Ja, das kann man so sagen. Und nicht nur für einen Katholiken. Auch andere Glaubensgemeinschaften haben wohl damit ein grosses Problem. Der Schwingsport ist gegenüber dem Thema auf jeden Fall toleranter.
Auch die Schwingerszene hat den Ruf, in gesellschaftlichen Fragen konservativ zu sein. Fehlt letztlich doch bei einigen im Publikum die Akzeptanz für ein solches Outing oder ist das nur noch ein Klischée?
Ich bin überzeugt, dass es nur noch ein Klischée ist. Die wichtigen Ämter im Schwingerverband sind mit Unternehmern besetzt, welche die heutige Zeit auch als modern denkende Menschen vorleben. Es mag ein wenig hart klingen und ich werde von einigen für diese Aussage wohl kritisiert: Aber der ESV von heute ist nicht auf den Ehrenmitgliedern aufgebaut. Die Funktionäre, die den Verband tragen und ziehen, stehen dem Outing absolut offen gegenüber. Eine traditionelle Sportart zu sein, hat nichts damit zu tun, wie man zu diesem Thema steht.
Schwingerkönig Arnold Forrer mutmasst, dass Orlik bei der Einteilung schwierigere Gegner erhält. Was sagen Sie als oberster Einteiler des Verbandes dazu?
Diese Aussage hat mich geärgert. Kann man ernsthaft denken, weil ein Schwinger schwul ist, wird er von der Einteilung anders angeschaut! Da bin ich mit meiner Meinung knallhart: Ich glaube, dass Nöldi Forrer seinen Abgang verpasst hat. Er hat sich in den letzten Jahren immer wieder negativ über die Einteilung geäussert. Ich behaupte, dass er von der Einteilung nichts versteht. Einzig, dass er sich oft im dritten Gang bei der Einteilung wegen einer Verletzung abgemeldet hat. Deshalb distanziere ich mich klar von solchen Aussagen der Cervelat-Prominenz.
Würden Sie rigoros einschreiten, wenn so etwas dennoch passiert?
Ganz klar! Aber ich bin überzeugt, dass so etwas auf keinen Fall passiert.
Und was ist, wenn Curdin Orlik wie im Fussball von Schwingern verbal provoziert wird? Wenn jemand beim Zusammengreifen zu ihm sagt: «Betatsch mich nur nicht!»
Während eines Schwingfestes sieht man sich zwischen den Gängen immer wieder in der Garderobe, die sich alle Schwinger teilen. Wie blöd müsste sich jemand vorkommen, wenn er dort auf einen Gegner trifft, dem er Minuten vorher so eine Aussage an den Kopf geworfen hat. Wichtig ist mir, dass Curdin Orlik jetzt seine Ruhe findet und glücklich ist. Er hat jahrelang mit sich und seinem Glauben gerungen, bevor er das Outing gemacht hat. Auf seine schwingerische Tätigkeit hat das Null Einfluss.
Durchaus Einfluss auf das Schwingen hat ein anderes Ereignis: Am kommenden Wochenende werden Sie aller Voraussicht nach zum Technischen Leiter des Eidgenössischen Schwingverbandes gewählt. Was bedeutet Ihnen diese Wahl?
Es ist die Ernte für Tausende von Stunden, die ich für den Schwingsport geleistet habe. Es war mein Ziel, Technischer Leiter des ESV zu werden, wenn ich das so frech sagen darf. Ich habe seit meinem Rücktritt als aktiver Schwinger 2005 nun 15 Jahre darauf hingearbeitet.
Welchen Einfluss hat der Technische Leiter?
Man ist Chef Schwingsport und als solcher kann man Dinge bewegen und eine Linie vorgeben. Das hat mich gereizt. Selbstverständlich muss man für seine Projekte den Zentralvorstand und die Abgeordnetenversammlung gewinnen. Ob ich all meine Ideen durchbringe, wird man sehen.
Welche Schwerpunkte wollen Sie setzen?
Ich möchte ganz klar die Arbeit der Kampfrichter reformieren. Ich sehe eine Professionalisierung als notwendig an, um die Qualität zu verbessern. Als zweiten Schwerpunkt möchte ich die Einteilung transparenter machen. Heute wird im Schwingsport sehr viel über die Kampfrichter und die Einteilung diskutiert. Das gehört zum einen dazu, soll aber nicht in Richtung Vorwürfe gehen, dass hinter den Kulissen gemauschelt wird. Dafür braucht es Vorgaben und einen Ausgleich bei der Einteilung. Kantönligeist oder Teilverbandsgeist hat hier nichts verloren.
Das Wort Professionalisierung wird im Schwingsport nicht überall gerne gehört?
Das stimmt, aber wir müssen trotzdem einen Schritt machen. Mir schwebt ein Pool von Kampfrichtern vor wie man es im Fussball kennt. Man tritt miteinander auf, geht vielleicht im Vorfeld gemeinsam essen, kennt sich über die gesamte Saison und setzt eine gemeinsame Linie um. Ich möchte, dass die drei Kampfrichter als Team mehrere Anlässe miteinander bestreiten. Und ich befürworte stark die Einführung eines vierten Kampfrichters, der dafür schaut, dass die Schwinger bereit sind, die Hosen richtig angezogen sind und die Noten korrekt geschrieben werden. Er erledigt die administrative Arbeit, so dass sich die beiden Richter am Tisch auf den Kampf konzentrieren können.
Ein ehrgeiziges Projekt!
Ich erwarte, dass viele ältere Funktionäre aus dem Schwingsport in dieser Frage gegen mich sein werden. Es steht in den Sternen, ob ich es schaffe. Es ist in der 125-jährigen Geschichte beinahe schon eine Revolution.
Im Nachgang des Schlussgangs am Eidgenössischen kam der Ruf nach einem Videoschiedsrichter auf?
Ich lehne den Videoschiedsrichter ab. Ich möchte nicht, dass 50'000 Zuschauer auf einen Entscheid per Funk warten müssen und 20'000 zu pfeifen beginnen. Im Schwingen soll weiterhin der Tatsachenentscheid gelten.
Das Coronavirus diktiert das Programm des Sports. Wie weit ist es im Schwingen ein Thema?
Es ist ein Hauptthema. Es wurden bereits sieben Hallenschwinget abgesagt. Wir müssen uns an die Vorgaben des Bundes halten. Unser Vorteil ist, dass die grossen Feste erst im Mai beginnen. Wir können nur hoffen, dass es dann überstanden ist. Geisterschwingfeste wird es sicher nicht geben.